Kategorie-Archiv: Gegenwart

Neuerscheinungen zur Brüderbewegung 2017

Es mag von Nutzen sein, am Ende des Jahres einmal die in den letzten zwölf Monaten erschienenen Veröffentlichungen zur Brüderbewegung übersichtlich zusammenzustellen und kurz zu kommentieren bzw. einzuordnen.


BÜCHER


Jill Aebi-Mytton: A Narrative Exploration of the Lived Experience of Being Born, Raised in, and Leaving a Cultic Group: The Case of the Exclusive Brethren. DPsych Thesis, London (Middlesex University / Metanoia Institute) 2017. 2 Bände. 221 + ? Seiten.

Psychologische Dissertation mit sechs Fallstudien über ehemalige Raven-Taylor-Brüder. Der Hauptband ist online verfügbar, der Anhangsband nicht.


Sylvain Aharonian: Les frères larges en France métropolitaine. Socio-histoire d’un mouvement évangélique de 1850 à 2010. Préface de Jean-Paul Willaime. Paris (Les éditions du cerf) 2017. 641 Seiten.

Ausführliche Sozialgeschichte der französischen Offenen Brüder. Die zugrunde liegende Dissertation ist auch online verfügbar.


Horia Azimioara: Mit beiden Flügeln fliegen. Das Leben von Teodor Popescu. Hückeswagen (CSV) 2017. 172 Seiten.

Teodor Popescu (1887–1963) gründete gemeinsam mit Dumitru Cornilescu (1891–1975) Anfang der 1920er Jahre in Rumänien eine Gemeindebewegung, die etwa zehn Jahre später mit den internationalen Kelly-Lowe-Continental-Brüdern in Gemeinschaft kam. Die hier vorliegende erbauliche Biografie erschien zuerst 2003 in englischer Sprache beim Gute-Botschaft-Verlag, Eschenburg.


Ian Burness: From Glasgow to Garenganze. Frederick Stanley Arnot and Nineteenth-Century African Mission. Studies in Brethren History. Lockerbie, UK (OPAL Trust) 2017. xvii, 339 Seiten.

Eine umfassende und gründliche Biografie des bekannten Afrikamissionars (1858–1914), die zum Standardwerk werden dürfte.


A[rthur] A. Fishburn: Resilience Tried and Tested. Ohne Ort und Verlag [Amazon CreateSpace] 2017. 474 Seiten. — Ders.: BCNW. Brethren Separating to God. Ohne Ort und Verlag [Amazon CreateSpace] 2017. 140 Seiten.

Beim erstgenannten Buch soll es sich um einen im Milieu der (Raven-Taylor?-)„Brüder“ angesiedelten Roman nach wahren Begebenheiten handeln, beim zweiten Buch um Hintergrundinformationen dazu.


Joan Kearney: Shaped to Fit. How God shaped a young woman for an unexpected calling to Brazil and back. Exeter (Onward & Upwards) 2017. 276 Seiten.

Autobiografie einer Wycliff-Missionarin (geb. 1936), die bis 1961 den Raven-Taylor-Brüdern angehört hatte.


Harvey G. Rees-Thomas: 100 Years on the Street. A Story of God’s Grace through Tory Street Hall, Elizabeth Street Chapel and The Street City Church. Wellington, NZ (HIS Services Limited) 2017. 547 Seiten.

Monumentale, aufwändig gestaltete Festschrift einer Offenen Brüdergemeinde in Neuseeland.


Robert Revie: India to Ethiopia. A 50 Year Journey. Kilmarnock, UK (Ritchie) 2017. 144 Seiten.

Autobiografie eines schottischen Missionars der Offenen Brüder.


stevensonMark R. Stevenson: The Doctrines of Grace in an Unexpected Place. Calvinistic Soteriology in Nineteenth-Century Brethren Thought. Foreword by Tim Grass. Eugene, OR (Pickwick) 2017. xvi, 304 Seiten.

Diese sorgfältig erarbeitete (und bibliophil gesetzte) Dissertation belegt, wie nahe die frühen „Brüder“ dem Calvinismus standen – näher, als sie selbst wahrscheinlich zugegeben hätten (und als vielen heutigen Lesern lieb ist, ich selbst inbegriffen). Nach zwei Kapiteln über die historische Entwicklung der calvinistischen Soteriologie seit dem 17. Jahrhundert untersucht Stevenson die ersten drei der „Fünf Punkte des Calvinismus“ und setzt sie zu den Schriften der „Brüder“ in Beziehung (jeweils nach Autoren geordnet). Es folgen ein hochinteressantes Kapitel über rettenden Glauben, Buße und Heilsgewissheit sowie eine zusammenfassende Bewertung.

Kritisch hätte ich anzumerken, dass der Autor seinem Thema nicht ganz neutral gegenübersteht: Er ist selbst calvinistischer „Bruder“ und hat daher ein offensichtliches Interesse daran, die Soteriologie der „Brüder“ als Variante des Calvinismus darzustellen; Lehren, die die „Brüder“ ablehnten (z.B. die doppelte Prädestination), erklärt er kurzerhand für weniger zentral oder für „hypercalvinistisch“. Bemerkenswert fand ich den Hinweis, dass die in der „Brüdertheologie“ übliche Unterscheidung zwischen Sühnung (propitiation) und Stellvertretung (substitution), „vorgeschattet“ in den beiden Böcken am großen Versöhnungstag (3Mo 16), eine originäre Erkenntnis Darbys war, die sich vor ihm nirgendwo in der Literatur findet (S. 180, Anm. 86).

Eine vorläufige Zusammenfassung der Arbeit erschien bereits 2010 in der Brethren Historical Review.


stottRebecca Stott: In the Days of Rain. London (4th Estate) 2017. 394 Seiten.

Das Genre der „Raven-Taylor-Aussteigerliteratur“ hat seit der Jahrtausendwende einen wahren Boom erlebt: Nach Ngaire Thomas (2004, ²2005), Em Amosa (2007), David Tchappat (2009), Lindsey Rosa (2010), James Bell (2014), Peter Wycherley Harrison (2014), Joy Nason (2015) und John L. Fear (2016) ist Rebecca Stott nun schon mindestens die neunte Vertreterin dieser Gattung in weniger als 15 Jahren. Aus zwei Gründen ragt ihr Buch allerdings aus der Reihe heraus: Es ist nach Meinung der meisten Rezensenten ungewöhnlich gut geschrieben (Rebecca Stott ist Literaturwissenschaftlerin und Romanautorin; ihre beiden historischen Thriller Ghostwalk und The Coral Thief liegen auch in deutscher Sprache vor), und es bietet Innenansichten aus einer „führenden Familie“: Rebeccas Großvater Robert Stott (1902–1976) war einer der Wortführer in der Aberdeen-Trennung von 1970 und verfasste gemeinsam mit seinem Sohn Roger – Rebeccas Vater (1938–2007) – die bekannte Schrift If We Walk in the Light. Die bisher ungedruckten Lebenserinnerungen von Roger Stott (der sich leider bald nach der Trennung ganz vom christlichen Glauben abwandte) sind im vorliegenden Buch mit verarbeitet – anders wäre es auch kaum zu schreiben gewesen, denn die Autorin selbst war zur Zeit der Trennung erst sechs Jahre alt. Kritiker wie der Religionssoziologe und „Sektenversteher“ Massimo Introvigne werfen dem Buch dennoch etliche historische und theologische Fehler vor. Laut der englischen Wikipedia ist auch eine deutsche Übersetzung in Vorbereitung.


Wilfried Weist / Reinhard Assmann: Dass das Wort des Herrn laufe und gepriesen werde. Die Schrifttumsarbeit im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in der DDR. Baptismus-Dokumentation 7. Wustermark/Norderstedt (Oncken-Archiv des BEFG / BoD) 2017. 298 Seiten.

Der sehr interessante und sorgfältig recherchierte Band enthält auch einige Hinweise auf die Brüdergemeinden.


AUFSÄTZE


Christopher Cone / James I. Fazio (Hrsg.): Forged from Reformation. How Dispensational Thought Advances the Reformed Legacy. El Cajon, CA (Southern California Seminary Press) 2017. xiv, 582 Seiten.

In diesem zum 500. Reformationsjubiläum erschienenen Sammelband amerikanischer Dispensationalisten sind zwei Aufsätze über Darby enthalten:

James I. Fazio: „John Nelson Darby: The Unknown and Well Known Nineteenth Century Irish Reformer (S. 81–108)
Cory M. Marsh: „Luther Meets Darby: The Reformation Legacy of Ecclesiastical Independence (S. 109–144)


elthg2aHeinzpeter Hempelmann / Uwe Swarat (Hrsg.): ELThG². Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde. Neuausgabe. Band 1. Holzgerlingen (SCM R. Brockhaus) 2017. LVIII, 1954 Spalten.

1992–94 in drei Bänden erstmals veröffentlicht, erscheint dieses verdienstvolle Lexikon nun in einer weitgehend neu geschriebenen, stark erweiterten 2. Auflage. Band 1 umfasst die Buchstaben A bis E; die geplanten drei weiteren Bände werden dem Vernehmen nach erst in zweijährlichen Abständen folgen. Aus dem Themenbereich Brüderbewegung sind in Band 1 nachstehende Artikel enthalten:

Kl(aus) vom Orde: „Baedeker, Friedrich Wilhelm (1823–1906) (Sp. 598f.)
G(erd) Goldmann: „Blücher, Toni von (1836–1906) (Sp. 954f.)
W(olfgang) Heinrichs: „Brockhaus, Carl Friedrich Wilhelm (1822–1899) (Sp. 1046–1048)
ders.: „Brüderverein, Evangelischer (Elberfelder) (Sp. 1058–1062)
B(erthold) Schwarz: „Darby, John Nelson (1800–1882) (Sp. 1326–1329)
R(oland) Deines: „Deichmann, Heinz-Horst (1926–2014) (Sp. 1340–1342)
Chr(istoph) Raedel: „Dispensationalismus (Sp. 1490–1493)

Einen Artikel „Brüderbewegung“ gibt es seltsamerweise nicht; stattdessen wird – wie in der 1. Auflage – auf das Stichwort „Versammlung, Christliche“ (und damit auf den wohl nicht vor 2023 zu erwartenden Band 4!) verwiesen. Die gesamte Brüderbewegung unter dieser nur noch von Geschlossenen und konservativen Freien Brüdern verwendeten Bezeichnung abzuhandeln erscheint kaum angemessen.


Bruce A. Baker: „The Early Life and Influence of John Nelson Darby“. In: Journal of Ministry & Theology 21 (2017), Heft 2, S. 110–126.

Einführung in Darbys erste Lebensjahrzehnte und Charakterzüge. Hauptquellen sind Turner (1926/44) und Weremchuk (1992); die neuere BAHN-Literatur wird vollständig ignoriert. Baker hält sogar an dem bereits von Weremchuk widerlegten Irrtum fest, Darbys Mutter sei früh verstorben (auch online).


Howard Barnes: „Walter Wolston“. In: Precious Seed 72 (2017), Heft 3, S. 20f.

Lebensbild des bekannten Evangelisten und Autors, erschienen zum 100. Todestag am 11. März 2017 (auch online).


John Bennett: „John R. Caldwell“. In: Precious Seed 72 (2017), Heft 1, S. 24f.

Lebensbild des langjährigen Herausgebers der Zeitschrift The Witness, erschienen zum 100. Todestag am 14. Januar 2017 (auch online).


Peter van Beugen: „John Nelson Darby“. In: Focus op de Bijbel [9] (2017), Heft 35, S. 34–41.

Lebensbild Darbys in einer niederländischen Zeitschrift der „blockfreien“ Brüdergemeinden (auch online).


Arnd Bretschneider: „Kein Preis zu hoch!? Ein junger Mann stellt sich dem Anspruch von Jesus Christus“. In: Perspektive16 [recte 17] (2017), Heft 5, S. 21–23.

Über den Missionar und Märtyrer Jim Elliot (1927–1956), dessen Zugehörigkeit zu den Offenen Brüdern im Artikel allerdings nicht erwähnt wird.


Peter Ferry: „Assemblies in Thailand. From Islands to Hill Tribes“. In: Precious Seed 72 (2017), Heft 3, S. 28f.

Über die Offenen Brüdergemeinden in Thailand (auch online).


Ken Follett: „Wie ich meinen Glauben verlor“. In: Rheinische Post 228 (30. September / 1. Oktober 2017), Magazin, S. C1–C2.

Autobiografischer Essay des unter den „Needed-Truth-Brüdern“ aufgewachsenen Bestsellerautors, zuerst auf Englisch erschienen in Granta. The Magazine of New Writing 137 (2016), S. 53–61. (Die deutsche Übersetzung ist online verfügbar, vom englischen Original gibt es auf YouTube eine Lesung des Autors mit Interview.)


Erich Geldbach: „Geschichtsschau und Gemeindeideal bei John Nelson Darby und in der Brüderbewegung“. In: Freikirchenforschung 26 (2017), S. 167–175.

Vortrag auf der Herbsttagung 2016 des Vereins für Freikirchenforschung zum Thema „Reformatio oder Restitutio? Vorstellungen von Erneuerung der Kirche in der Geschichte der Freikirchen“. Die Ausführungen sind im Wesentlichen sachlich korrekt und mit Zitaten belegt, aber der bei Geldbach obligate Seitenhieb gegen die Romanreihe Left Behind (für die Darby nicht verantwortlich ist und die er niemals gebilligt hätte) darf selbstverständlich nicht fehlen.


Tim Grass: „Restorationists and New Movements“. In: The Oxford History of Protestant Dissenting Traditions. Volume III: The Nineteenth Century. Hrsg. von Timothy Larsen und Michael Ledger-Lomas. Oxford (Oxford University Press) 2017. S. 150–174.

Die Seiten 156–160 dieses Überblicksartikels sind der Brüderbewegung gewidmet.


Óli Jacobsen: „Jógvan F. Kjølbro (1887–1967): Ein Geschäftsmann in der Brüdergemeinde der Färöer“. In: Tjaldur. Mitteilungsblatt des Deutsch-Färöischen Freundeskreises 57/58 (Juni 2017), S. 77–85.

Biografischer Artikel, zuerst auf Englisch erschienen in Brethren Historical Review 12 (2016), S. 34–48.


David C. Kirkpatrick: „‘Freedom from Fundamentalism’: Christian Brethrenism and the Rise of Latin American Protestant Evangelical Social Christianity“. In: The Journal of World Christianity 7 (2017), S. 211–233.

Laut diesem Artikel führte die Übergabe der Leitungsverantwortung von europäischen „Brüder“-Missionaren an Einheimische in Lateinamerika zu größerem sozialem Engagement und zu einer Abkehr vom Fundamentalismus.


Gerard Kramer: „William Kelly (1821–1906)“. In: Focus op de Bijbel [9] (2017), Heft 36, S. 18–23.

Lebensbild Kellys in einer niederländischen Zeitschrift der „blockfreien“ Brüdergemeinden (auch online).


Andreas Liese: „‚Wir konnten immer das Evangelium verkünden‘. Baptisten und Brüdergemeinden im ‚Dritten Reich‘“. In: Kirchliche Zeitgeschichte 30 (2017), S. 93–133.

Der Beitrag untersucht die Entwicklung von Baptisten- und Brüdergemeinden im NS-Staat bis hin zum Zusammenschluss im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden.


Armin Lindenfelser: „Elizabeth Paget (1783–1863). Die ‚Mutter der Brüderbewegung‘“. In: Zeit & Schrift 20 (2017), Heft 4, S. 31–35.

Lebensbild der „geistlichen Mutter“ von Anthony Norris Groves, Georg Müller und Robert Cleaver Chapman (auch online verfügbar).


Peter Lineham: „Learning from History: An Exclusive Brethren Story“. In: History Making a Difference: New Approaches from Aotearoa. Hrsg. von Katie Pickles, Lyndon Fraser, Marguerite Hill, Sarah Murray und Greg Ryan. Newcastle upon Tyne (Cambridge Scholars Publishing) 2017. S. 73–91.

Der erste Teil des Aufsatzes handelt vom Geschichtsverständnis der Brüderbewegung allgemein (einschließlich der Offenen Brüder), im zweiten Teil analysiert der Autor Material aus dem Geschichtsunterricht der Raven-Taylor-Hales-Privatschulen, das ihm von einem Aussteiger zugespielt wurde.


Berlin M[artin] Nottage: „Heroes of the Faith: Brothers Beloved“. In: Cornerstone 1 (2017), Heft 1, S. 12–14.

Über die drei von den Bahamas stammenden, aber hauptsächlich unter Schwarzen in den USA wirkenden Evangelisten Whitfield Nottage (1883–1986), Talbot Burton Nottage (1885–1972) und Berlin Martin Nottage (1889–1966) (auch online). Die Zeitschrift Cornerstone wurde dieses Jahr neu gegründet.


Sarah Ponzer: „‘Disease, Wild Beasts, and Wilder Men’: The Plymouth Brethren Medical Mission to Ikelenge, Northern Rhodesia“. In: Conspectus Borealis 2 (2017), Issue 1, Article 4. 25 Seiten.

Studentische Hausarbeit über ein sehr spezielles Missionsthema, erschienen in der Zeitschrift der Northern Michigan University in Marquette (auch online).


Bogdan Emanuel Răduţ: „Origini europene ale Bisericii Creştine după Evanghelie din România“. In: Arhivele Olteniei NS 31 (2017), S. 205–213.

Über britische, schweizerische und deutsche Einflüsse auf die Entstehung der Brüdergemeinden in Rumänien (auch online).


Richard E. Strout: „Ninety Years and Counting: The History of Assemblies in Quebec“. In: Cornerstone 1 (2017), Heft 2, S. 16f.

Zusammenfassung des vom selben Autor verfassten Buches Ebb and Flow. A History of Christian Brethren Churches in French Canada 1926–2010, Port Colborne, ON (Gospel Folio Press) 2016 (der Artikel ist auch online verfügbar).


Todne Thomas: „Rebuking the Ethnic Frame: Afro Caribbean and African American Evangelicals and Spiritual Kinship“. In: New Directions in Spiritual Kinship. Sacred Ties across the Abrahamic Religions. Hrsg. von Todne Thomas, Asiya Malik und Rose E. Wellman. Contemporary Anthropology of Religion. Cham, Schweiz (Palgrave Macmillan) 2017. S. 219–244.

Kulturanthropologische Studie über zwei afroamerikanische Gemeinden der Offenen Brüder in Atlanta (Georgia).


Für Hinweise auf weitere, von mir übersehene Neuerscheinungen bin ich dankbar!

Was ist eine Brüdergemeinde?

brotbrechenEs hat in den letzten Jahren einige Versuche gegeben, zu definieren, was das Wesen einer Brüdergemeinde ausmacht (z.B. von Gerhard Jordy, Hartwig Schnurr, Stephan Holthaus, Karl-Heinz Vanheiden, Philip Nunn). Mir persönlich scheinen dabei äußerliche bzw. organisatorische Merkmale oft zu sehr im Vordergrund zu stehen. Ist wirklich jede Gemeinde, die sich als bibeltreu versteht, keinen Pastor hat, das „allgemeine Priestertum“ praktiziert und jede Woche das Abendmahl feiert, eine Brüdergemeinde? Dann könnte z.B. auch eine Gemeinde, in der die Gültigkeit des mosaischen Gesetzes, die Verlierbarkeit des Heils und der Postmillennialismus gelehrt wird, als Brüdergemeinde durchgehen. Aber wäre das historisch und theologisch gerechtfertigt? Meiner Ansicht nach gehört zur Identität einer Brüdergemeinde unbedingt auch eine dispensationalistische Theologie (und damit meine ich nicht nur eine dispensationalistische Eschatologie, sondern auch eine dispensationalistische Soteriologie und Ethik).

Ich habe vor einiger Zeit einmal versucht, die (aus meiner Sicht) wichtigsten Merkmale von Brüdergemeinden in knappstmöglicher Form zusammenzustellen, und zwar so, dass sich sowohl „offene“ als auch „geschlossene“ Gemeinden grundsätzlich darin wiederfinden können (abgesehen vielleicht von den äußersten „linken“ und „rechten“ Flügeln).

1. Einfachheit: Brüdergemeinden orientieren sich an den schlichten Gemeindestrukturen des Neuen Testaments. Dazu gehört der Verzicht auf einen besonderen konfessionellen Namen,1 der sie von anderen Gemeinden mit anderen Namen abgrenzen würde, auf eine formelle Mitgliedschaft, auf hierarchische Organisationsstrukturen u.a.

2. Selbständigkeit und Einheit: Brüdergemeinden sind grundsätzlich selbständig,2 also keiner überregionalen, nationalen oder internationalen Kirche, Freikirche3 oder Organisation angeschlossen. Sie pflegen aber freundschaftlichen Kontakt und Austausch mit ähnlich ausgerichteten Gemeinden an anderen Orten und fühlen sich mit allen wiedergeborenen Christen verbunden.

3. Allgemeines Priestertum: Es wird nicht zwischen „Geistlichen“ und „Laien“ unterschieden, sondern jeder Gläubige darf entsprechend den Gaben, die er von Gott erhalten hat, zum Gemeindeleben beitragen.4 Für keinen der Dienste in der Gemeinde ist eine besondere Ausbildung oder formelle Anstellung erforderlich.

4. Spontaneität: Brüdergemeinden vertrauen darauf, dass der Heilige Geist ihre Zusammenkünfte leitet. Daher wird der Ablauf in der Regel nicht im Voraus geplant,5 sondern er ergibt sich aus spontanen Gebeten, Liedvorschlägen, Bibellesungen, Wort- und Predigtbeiträgen.

5. Bruderschaftliche Leitung: Eine Gruppe von Brüdern, die sich für die Gemeinde verantwortlich fühlen, übt eine gewisse Leitungsfunktion aus.6 Sie stehen jedoch nicht über der Gemeinde, sondern mitten in ihr und legen wichtige Entscheidungen der gesamten Gemeinde zur Prüfung vor.

6. Gläubigentaufe: Die Taufe wird als persönlicher Gehorsamsakt nach der Bekehrung verstanden und durch Untertauchen praktiziert. Von Gläubigen, die als Kinder in einer christlichen Kirche getauft wurden und diese Taufe als gültig anerkennen, wird in der Regel keine Wiedertaufe verlangt.7

7. Hochschätzung des Abendmahls: Das Abendmahl (Brotbrechen) spielt in Brüdergemeinden eine zentrale Rolle. Es wird nach dem Vorbild des Neuen Testaments jeden Sonntag gefeiert und von Gebeten, Liedern und Schriftlesungen zur Ehre Gottes umrahmt.

8. Offenheit für Besucher: Zu allen Zusammenkünften sind Gäste herzlich willkommen. Am Mahl des Herrn dürfen sie teilnehmen, wenn sie bekennen, dass Jesus Christus ihr Retter und Herr ist und dass sie nicht in einer moralischen oder lehrmäßigen Sünde leben, die nach dem Neuen Testament von der Gemeinschaft ausschließt.8

9. Bibeltreue:9 Die Heilige Schrift gilt als höchste Autorität für Lehre und Leben des Einzelnen und der Gemeinde. Alle Auslegungen, Meinungen und Erfahrungen müssen sich an ihrem Maßstab prüfen lassen.

10. Heilsgeschichtliche10 Bibelauslegung: Brüdergemeinden sind überzeugt, dass Gott im Laufe der Geschichte auf verschiedene Weise mit den Menschen umgegangen ist. Insbesondere werden das alttestamentliche Volk Israel und die neutestamentliche Gemeinde als unterschiedliche Personengruppen gesehen, für die unterschiedliche Aussagen der Bibel gelten.11

11. Stellung und Zustand des Gläubigen: Brüdergemeinden unterscheiden zwischen der vollkommenen, unverlierbaren Stellung des Gläubigen in Christus und seinem oft noch unvollkommenen praktischen Zustand. Das christliche Leben soll durch ständiges Wachstum in der Erkenntnis und der Nachfolge Jesu gekennzeichnet sein.12

12. Naherwartung: Brüdergemeinden erwarten die baldige Wiederkunft Jesu Christi zur Auferweckung der verstorbenen und zur Entrückung der lebenden Gläubigen.13


Neuerscheinung: “The Brethren Movement Worldwide”

bmwwKen Newton / Andrew Chan (Hrsg.):
The Brethren Movement Worldwide. Key Information 2011
3rd Edition
Lockerbie (OPAL Trust) 2011
Paperback, 230 Seiten
ISBN 978-1-907098-06-2

Dieses anlässlich der fünften International Brethren Conference on Mission erschienene Buch gibt einen stichwortartigen Überblick über die Verbreitung der („offenen“) Brüderbewegung in 96 Ländern der Erde, alphabetisch geordnet von „Albania“ bis „Zambia“. Für jedes Land werden zuerst allgemeine Daten über Bevölkerungszahl und Religionszugehörigkeit angegeben, danach Informationen über Anzahl der Brüdergemeinden und der vollzeitlichen Mitarbeiter, Gesamtmitgliederzahl, Zeitschriften, Werke, Verlage und Konferenzen. Am Ende stehen jeweils eine Reihe von Gebetsanliegen.

Bei der Zusammenstellung der Daten waren die Herausgeber auf die Mitarbeit von Kontaktpersonen in den einzelnen Ländern angewiesen. Für Deutschland (S. 78–84) werden die drei Gruppen „FB“ (= Freie Brüder), „AGB“ (= Arbeitsgemeinschaft der Brüdergemeinden im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden) und „NV“ (= „Neue Versammlungen“, Blockfreie) genannt; Gewährsleute waren Lothar Jung (FB), Reinhard Lorenz (AGB), Hans-Jochen Timmerbeil (NV) und Gerd Goldmann (Ansprechpartner für Deutschland insgesamt). Die Angaben sind im Allgemeinen zuverlässig, jedoch von sehr unterschiedlicher Vollständigkeit; so erscheint die Postanschrift der Christlichen Verlagsgesellschaft gleich dreimal, während z.B. von den Verlagen CLV und Daniel nur eine Mailadresse mitgeteilt wird. (Mehrere der angegebenen Mail- und Internetadressen sind übrigens fehlerhaft, was ihre Brauchbarkeit doch ziemlich einschränkt.)

Bemerkenswert im Abschnitt “Germany” sind einige der Gebetsanliegen. Zu danken sei u.a. für “Good contacts among the different groups of Brethren in Germany, except the Exclusive Brethren”, ebenso für “The realisation that each congregation needs a biblical eldership” (S. 84). Fürbitte sei u.a. nötig für “Freedom from quarrels and separation” (ebd.).

Das allzu vollmundige Vorwort zur 1. Auflage (2007), in dem Harold H. Rowdon die Liebe der „Brüder“ zum Herrn und zum Wort Gottes sowie ihren Evangelisationseifer als einzigartig in der Christenheit gerühmt hatte, ist seit der 2. Auflage entfallen; neu hinzugekommen sind dafür sieben nützliche Übersichtstabellen zur weltweiten Verbreitung der (offenen) Brüderbewegung, die auf Erhebungen von Peter Brierley (Brierley Consultancy) basieren.

Dankenswerterweise kann die aktuelle Auflage des Buches kostenlos als PDF heruntergeladen werden.