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Eine wenig bekannte Artikelserie von „Titus Blicker“

In seiner Broschüre Die Zerrissenheit des Gottesvolkes in der Gegenwart, einem Beitrag zum „Schriftenstreit“ zwischen den Freien evangelischen Gemeinden und den Geschlossenen Brüdern, schrieb der FeG-Prediger Gustav Nagel (1868–1944):

„Ich kenne,“ hat ein Kenner der „Versammlung“ gesagt, „eine gleichartige sicher funktionierende Organisation nur noch im deutschen Heere und im Jesuitenorden.“1

blicker40Wer dieser „Kenner der ‚Versammlung‘“ war, ist uns nicht überliefert; immerhin konnte jetzt aber die Quelle identifiziert werden, der Nagel dieses Zitat entnommen hatte. Es handelt sich um die vierteilige Artikelserie „Ist der Darbysmus, was er vorgibt zu sein?“ eines gewissen Titus Blicker, erschienen 1912 in der Zeitschrift Auf der Warte. Ein Blatt zur Förderung und Pflege der Reichgottesarbeit in allen Ländern. Gleich im ersten Teil schreibt Blicker:

Keine der lutherischen, auch keine der reformierten, der methodistischen, baptistischen oder irgend eine der unabhängigen Kirchen, ja selbst nicht einmal die römische kann so rasch und sicher ein Glied, einen Lehrenden exkommunizieren und für sie schadlos machen, wie der alte Darbysmus in seinen Bündnissen deutscher, englischer, französischer und anderer Zungen. Jeder Bund hat eine so fest gegliederte Organisation, daß ein Knecht Gottes, der sie von England und anderwärts her kennt, zum Schreiber sagte: Ich kenne eine gleichartige sicher funktionierende Organisation nur noch im deutschen Heere und im Jesuitenorden.2

Auch ein zweites Zitat Nagels – nur wenige Zeilen nach dem oben angeführten – stammt aus dem Artikel von Blicker:

Es ist keine Übertreibung, wenn jemand bei einer Erörterung dieser Fragen sagt: „Gewiß hat keine gläubige Gemeinschaft stärker das hierarchische System verneint und in allen diesbezüglichen Schriften bekämpft, als die darbystischen Gruppen, und gerade sie haben dieses System.“3

Im Original heißt es:

Gewiß hat keine evangelische Kirche, keine gläubige Gemeinschaft stärker das hierarchische System verneint und in allen seinen diesbezüglichen Schriften bekämpft, als die vielen darbystischen Gruppen, und gerade sie haben dieses System.4

Blickers Hauptthema, wie es sich in diesen Zitaten und auch bereits im Titel ausdrückt, ist die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der „Versammlung“: Während sie sich immerfort auf das Wort Gottes und die Leitung durch den Heiligen Geist berufe, folge sie in Wirklichkeit doch nur den Festlegungen Darbys:

Darbys Form und Art ward Sitte; die Sitte ward Gewohnheit; die Gewohnheit ward Natur; die Natur erzwang die Notwendigkeit, die unevangelische, unpaulinische Gesetzlichkeit!5

Diese kleinliche Nachahmung in so vielen ernsten Fragen steht Betern und ernsten Bibelchristen schlecht an, sonderlich aber solchen, die in allen Schriften in allen erdenklichen Tonarten behaupten, sie und sie allein richteten alles ein nach dem Worte Gottes, und bei ihnen stände alles unter der Leitung des Heiligen Geistes.6

Der Autor

Wer war Titus Blicker? Eine Google-Suche erbringt (wenn man von den Telefonnummern einiger nordamerikanischer Namensvettern absieht) nur einen einzigen Treffer: Bernhard Kochs Als Manuskript gedruckten Brief an den Verfasser der Schrift „Die Zerrissenheit des Gottesvolkes in der Gegenwart“ – ein weiterer Beitrag zum „Schriftenstreit“, den wir 2007 auf bruederbewegung.de veröffentlicht haben. Koch schreibt:

Interessant war mir übrigens die Bemerkung des Rezensenten vom „Wahrheitszeugen“, daß „Titus Blicker“ mit den Brüdern unangenehme Erfahrungen gemacht haben soll. Ob es dieser denn gar nicht weiß, welche Erfahrungen die Brüder mit dessen Pseudonymus gemacht haben? – Und nicht nur diese, sondern auch die Baptistengemeinde selbst, dessen Organ doch der „Wahrheitszeuge“ ist. Aber auch selbst diejenigen Brüder, mit denen M. Spr. – denn um diesen handelt es sich doch – noch später in Verbindung war, können ebenfalls nicht von angenehmen Erfahrungen sprechen. Dieser Mann hätte wirklich am allerwenigsten Ursache, gegen andere zu schreiben.7

„Titus Blicker“ war also offenbar ein Pseudonym von „M. Spr.“ Dahinter verbirgt sich mit großer Wahrscheinlichkeit Max Springer, dessen Name mit zwei weiteren „brüderkritischen“ Schriften in Verbindung steht:

Über Springers Leben ist bisher außerordentlich wenig bekannt; nicht einmal seine Geburts- und Todesdaten und sein vollständiger Name (er publizierte unter den Initialen „W. C. M.“ Springer) liegen uns vor. Sicher ist, dass er bis 1892 den „Elberfelder Brüdern“ angehörte, sich dann aber auf die Seite Ravens stellte – vielleicht weniger aus Sympathie mit Ravens Lehren als aus Opposition gegen die „zentralistische“ Art und Weise, wie die kontinentaleuropäischen „Brüder“ 1890/91 auf zwei Elberfelder Konferenzen ihre Entscheidung gegen Raven gefällt hatten. So richtete er am 5. Juni 1892 in einem Rundschreiben „eine scharfe Anklage gegen die autoritäre Haltung einiger führender Brüder“.8 Als Rudolf Brockhaus (1856–1932) dreißig Jahre später seine Abhandlung über Raven und seine Lehren schrieb, hatte er vielleicht nicht zuletzt Max Springer im Sinn, wenn er über die deutschen Raven-Verteidiger von 1892/93 wie folgt urteilte:

bemerkenswerter Weise waren es fast ausnahmslos Elemente, die schon seit längerer Zeit unzufrieden und vielfach eine Beschwerde für die örtlichen Versammlungen gewesen waren und nun einen willkommenen Anlass fanden, ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu geben.9

Dass dieses Motiv tatsächlich eine Rolle spielte, wird von dem Raven-Bruder Alfred Wellershaus (1897–1968) bestätigt:

Es gab in Deutschland einige Brüder, die schon längere Zeit unter dem nebeneingeschlichenen Lehrbrüdertum Elberfelds […] geseufzt hatten, und diese Brüder gingen nicht mit Elberfeld, sondern blieben bei F. E. Raven und der Wahrheit Gottes.10

Max Springer gründete 1893 die erste Zeitschrift der deutschen Raven-Brüder, Worte der Gnade und Wahrheit. Bereits Ende 1894 scheint er jedoch auch mit den Raven-Brüdern in Konflikt geraten zu sein, denn Raven schrieb am 17. Dezember 1894 an Thomas Henry Reynolds (1830–1930):

I am quite pained to hear about Springer and am quite in sympathy with your appeal.11

Etwa 1896 wandte Springer sich dann offenbar ganz von der Brüderbewegung ab; die Worte der Gnade und Wahrheit wurden 1897 von Christian Schatz (1869–1947) übernommen. Nach dem oben zitierten Hinweis Bernhard Kochs muss Springer sich eine Zeitlang zu den Baptisten gehalten haben; wen Koch mit „d[en]jenigen Brüder[n]“ meint, „mit denen M. Spr. […] noch später in Verbindung war“, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit feststellen. 1909 veröffentlichte Springer die Broschüre Der Weg zur schriftgemäßen Heiligung: Hingabe und Hindernisse (Mülheim/Ruhr, Evangelisches Vereinshaus), was möglicherweise auf eine Nähe zur Heiligungsbewegung hindeutet. Laut Ekkehard Hirschfeld war er um 1910 ein „wichtiger Mitarbeiter“ von Arthur Heinrich Großmann (1879–1958), der in Berlin eine freie, unabhängige „Christliche Gemeinschaft“ leitete.12 In deren Partnergemeinde in Posen hielt Springer Anfang 1910 eine Vortragsreihe, deren Thema noch durchaus „brüdertypisch“ klang:

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Auf der Warte 7 (1910), Heft 3, S. 4

Die Zeitschrift Auf der Warte, in der diese Anzeige und zwei Jahre später auch die „Titus-Blicker“-Artikelserie erschienen,13 wurde von Gustav Ihloff (1854–1938) und seinem Schwiegersohn Karl Möbius (1878–1962) in Neumünster/Holstein herausgegeben und stand der Gemeinschaftsbewegung nahe.

Nach diesen Veröffentlichungen verliert sich Springers Spur. Das wechselvolle Leben dieses Mannes, der sich vom überzeugten „Darbysten“ zum scharfen „Antidarbysten“ wandelte (man fühlt sich an F. W. Bernsteins legendären Zweizeiler erinnert: „Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche“), wäre zweifellos ein lohnendes Forschungsthema!

Die Artikelserie

Auf die Artikelserie „Ist der Darbysmus, was er vorgibt zu sein?“ wurde ich zuerst von Hartmut Wahl, einem geschätzten Kollegen aus dem „Arbeitskreis Geschichte der Brüderbewegung“, aufmerksam gemacht; er hatte im Archiv der Lippischen Landeskirche in Detmold eine handschriftliche Abschrift davon entdeckt. Auf der Suche nach der Originalveröffentlichung wandte ich mich ans Archiv der Evangelischen Allianz in Bad Blankenburg, wo vom Jahrgang 1912 der Warte allerdings nur ein einziges Heft vorhanden ist; immerhin konnte mir Archivar Werner Beyer aber zwei Antworten auf Leserbriefe aus dem Jahrgang 1913 zur Verfügung stellen. Die eigentliche Artikelserie erhielt ich schließlich über einen Dokumentlieferdienst von der Universitätsbibliothek Kiel. Seit heute ist sie auf bruederbewegung.de in zeichengetreuer Neuedition zugänglich.

Über die von „Titus Blicker“ geäußerte Kritik an der „Versammlung“ mag man geteilter Meinung sein; neben manchem Berechtigten finden sich in den Artikeln auch einige eher zweifelhafte Behauptungen. Interessanter sind die historischen Hinweise, die „Blicker“ hier und da einstreut. Gleich im ersten Satz heißt es:

„Die Versammlung“ ist in Deutschland in vier scharf getrennten Gruppen vertreten und eifrig tätig.14

An welche vier Gruppen „Blicker“ dabei denkt, erläutert er in Teil 2 der Serie:

Wenn die Schüler Darbys in Deutschland bisher auch nur in vier verschiedenen Lagern vertreten sind (ein großes und drei kleinere), die alle unter sich gut organisiert sind und ihre regelmäßig wiederkehrende Konferenz haben (die Elberfelder in Dillenburg, Elberfeld und Berlin; die Ravensche [englische] in Berlin und Düsseldorf; die Neudarbysten [open Brethern] in Homburg bei Wiesbaden; von der kleinsten mit etwa 20 kleinen Versammlungen ist uns der Konferenzort nicht bekannt) …15

Demnach zählt „Blicker“ auch die Offenen Brüder zu den „Schülern Darbys“; bei der vierten, offenbar noch recht neuen Gruppe dürfte es sich um die Glanton-Brüder handeln (deren Geschichte in Deutschland noch weitgehend unerforscht ist16).

Aufschlussreich ist auch die folgende Bemerkung über Georg von Viebahn (1840–1915), den Springer einige Jahre zuvor noch recht scharf angegriffen hatte:17

Viele Gläubige nehmen an, „die Versammlung“ sei nicht mehr so rigoros wie früher, wie es die Tätigkeit und Freiheit des Herrn v. V. beweise. Das bißchen evangelische Freiheit genießt selbst dieser warmherzige, treue Herr nur unter kleinlich nörgelndem Widerspruch.18

Seine eigene frühere Zugehörigkeit zu den „Brüdern“ lässt der Autor nur an einer einzigen Stelle durchblicken:

Schreiber hörte vor dreißig Jahren den tüchtigen Schriftausleger C. Brockhaus (gest. 9. 5. 1899) in einer großen Versammlung reden über den Auftrag und Wert, über die Verantwortung und Rechte eines Bruders, der da lehrt.19

Die Replik

1913 erschienen in Auf der Warte zwei Nachträge zu „Titus Blickers“ Artikelserie, ein redaktioneller und einer von „Blicker“ selbst (ebenfalls in der Neuedition auf bruederbewegung.de enthalten). Beide sind an „Kaufmann A. Mann-Hildesheim“ gerichtet, der einen Offenen Brief an die Redaktion geschrieben und diesen anscheinend auch sonst breit gestreut hatte. Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit handelt es sich dabei um den Glanton-Bruder August Mann, der in Hildesheim u.a. als Verleger wirkte (so gab er 1909 und 1921 das Liederbuch Geistliche Lieder und Gesänge heraus20). Ein wesentlicher Teil des Offenen Briefes muss aus „persönlichen Verdächtigungen gegen den Verfasser“21 (also Blicker bzw. Springer) bestanden haben, den Mann „mit einem sittlichen Makel offen behafte[te]“ und „als einen abgefallenen Schüler Darbys hart brandmark[te]“22 – Vorwürfe, auf die „Blicker“ in seiner Antwort aber nicht einging:

Das sind häßliche Ausführungen, darauf antwortet man nicht! Mit solchem Geist streitet man nicht (1. Kor. 11, 16; Phil. 4, 8).23

Leider liegt mir dieser Offene Brief bislang nicht vor; sollte ein Leser ihn besitzen und mir eine Kopie zugänglich machen können, wäre ich dafür dankbar!


100. Todestag von Paul Jacob Loizeaux

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Paul Jacob Loizeaux (1841–1916)

Wer hat den Tisch des Herrn? Diese Frage hat die „Brüder“ schon immer beschäftigt. Eine eher ungewöhnliche Antwort (zumindest für einen Geschlossenen Bruder) gab darauf der amerikanische „Grant-Bruder“ Paul Jacob Loizeaux – so ungewöhnlich, dass sich Rudolf Brockhaus 1925 veranlasst sah, im Botschafter des Heils in Christo eine Richtigstellung zu veröffentlichen.

Wer war Paul Jacob1 Loizeaux? Geboren wurde er im Oktober2 1841 als ältester Sohn des Seidenhändlers Jean Jacques Loizeaux (1816–1885) und seiner Frau Marie Susanne geb. Dusse (1819–1892) im nordfranzösischen Ort Lemé. 1850 zog die Familie, die seit Generationen protestantisch war, in den Süden Frankreichs, da es dort bessere protestantische Schulen gab. Als 1853 das Seidengewerbe in eine Krise geriet, emigrierten sie in die USA; nach kurzem Aufenthalt in Illinois ließen sie sich in Vinton (Iowa) nieder und begannen erfolgreich Landwirtschaft zu betreiben.

Paul Jacob besuchte von 1860 bis 1862 das Charlier Institute, eine höhere Schule in New York, und begann anschließend eine juristische Ausbildung in einer Anwaltskanzlei seiner Heimatregion. Aufgrund von Gewissensbedenken brach er diese jedoch bald wieder ab und kehrte als Lehrer ans Charlier Institute zurück. Er bemühte sich, ein moralisch einwandfreies Leben zu führen, und erhielt von seiner Kirche sogar eine Lizenz zum Predigen, war bis dahin aber noch nicht zum Evangelium der Gnade durchgedrungen; dies geschah erst, als er während eines Krankenbesuchs auf Römer 3 und die Rechtfertigung allein aus Glauben hingewiesen wurde. Loizeaux beschloss, seinen Beruf aufzugeben und sich fortan nur noch der Verkündigung dieser Botschaft zu widmen.

In New York hatte er Celia Sanderson (1842–1908) kennengelernt, die dort ebenfalls zur Schule ging und bereits den „Brüdern“ angehörte. Am 4. Februar 1868 heirateten die beiden in Celias Heimatstadt Milwaukee (Wisconsin) und zogen anschließend wieder nach Vinton. Durch Loizeaux’ Zeugnis fand ein großer Teil seiner Familie, darunter seine Eltern und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Timothée Ophir Loizeaux (1843–1927), zur Gewissheit des Heils. In Vinton und Umgebung entstanden mehrere Hausgemeinden.

Im Sommer 1870 besuchte Loizeaux die große Konferenz der „Brüder“ in Guelph (Ontario), zu der auch John Nelson Darby (1800–1882) angereist war. Das dort Gehörte beeindruckte ihn sehr, und so schloss er sich – ebenso wie mehrere andere Mitglieder seiner Familie – den „Brüdern“ an. 1876 gründete er gemeinsam mit seinem Bruder Timothée in Vinton den Schriftenverlag Bible Truth Depot, der 1879 nach New York verlegt wurde und sich dort unter dem Namen Loizeaux Brothers bald zu einem der wichtigsten amerikanischen Verlage der „Brüder“ entwickelte.

Ab 1881 wohnten die Brüder Loizeaux in dem ca. 40 km westlich von New York gelegenen Plainfield (New Jersey), wo sich auch Frederick William Grant (1843–1902) niederließ. Paul Loizeaux predigte viel in den umliegenden Versammlungen, verkündigte das Evangelium und schrieb etliche Broschüren und Zeitschriftenartikel.3 Die höchste Auflage (mehrere Millionen!) erreichte eine bereits 1871 erschienene Schrift über den zum Tode verurteilten Verbrecher Daniel Mann, der im Gefängnis von Kingston (Ontario) durch Loizeaux zum Glauben gekommen war.4 Über seine Evangelisationsweise berichtet Henry Allan Ironsides Biograf eine interessante Episode:5

Mr. Loizeaux war vor allen Dingen ein Evangelist, der durch sein kraftvolle Verkündigung viele Menschen ansprach.

Eines Abends begab sich Ironside früh zum Versammlungssaal. Er stand hinten in einer kleinen Nische, die durch eine Querwand vom Rest des Saales abgetrennt war. Da kamen zwei Männer herein und betraten gleich den Hauptraum. Einer der beiden sagte: „Ist dir aufgefallen, worin sich der Predigtstil Loizeaux’ von dem Ironsides unterscheidet?“

Harry hielt es für angebracht, seine unsichtbare Anwesenheit kundzutun, aber bevor er überlegen konnte, was er sagen solle, antwortete der zweite Mann dem Fragenden: „Die beiden kann man überhaupt nicht miteinander vergleichen. Sie sind so grundverschieden.“

Jetzt war es zu spät, und im nächsten Augenblick hörte der unfreiwillige Lauscher den ersten Mann sagen: „Ja, aber es gibt eine Sache, die ins Auge fällt. Wenn Paul Loizeaux spricht, sagt er den Leuten immer, was sie bekommen werden, wenn sie zu Christus kommen. Harry Ironside dagegen sagt ihnen immer, was sie erwartet, wenn sie es nicht tun.“

Ironside wurde von diesem Gegensatz so getroffen, daß er das Gespräch später am Abend Mr. Loizeaux mitteilte. Jener sagte auf die für ihn typische Art: „Ja, mein lieber junger Bruder, das sollte uns zu denken geben. Wir dürfen niemals vergessen, daß unser großer Auftrag darin besteht, die Gnade Gottes zu verkünden.“

Als es 1884 zur „Grant-Trennung“ kam, blieben die Brüder Loizeaux treu auf der Seite Grants. Bei den späteren Vereinigungsgesprächen mit anderen „Brüder“-Gruppen spielte Paul Loizeaux meist eine führende Rolle, so bereits 1886, als William Kelly (1821–1906) nach Amerika kam, um die Aussichten für einen Zusammenschluss zwischen „Kelly-“ und „Grant-Brüdern“ zu erkunden (was letztlich an der Verbindung der „Grant-“ mit den „Stuart-Brüdern“ scheiterte, die Kelly nicht akzeptieren konnte). Der 1892 getroffenen Entscheidung der „Grant-Brüder“, auch Offene Brüder zum Brotbrechen zuzulassen, stand Loizeaux skeptisch gegenüber, trug sie aber doch mit – bevor sie 1893 und 1894 schrittweise wieder rückgängig gemacht wurde. 1909 reiste Loizeaux mit drei anderen führenden „Grant-Brüdern“ nach England, um einen möglichen Zusammenschluss mit den „Glanton-Brüdern“ zu erörtern, doch konnte darüber ebenfalls keine Einigung erzielt werden – Loizeaux nahm es den „Glanton-Brüdern“ übel, dass sie sich nicht eindeutig vom Ausschluss Clarence Esme Stuarts (1885) distanzieren wollten, und sprach sich schließlich gegen ein Zusammengehen mit ihnen aus. Den Aufenthalt in Europa nutzte er danach noch zu einem Besuch seiner französischen Heimat.

Wann Loizeaux seine kleine Broschüre über den Tisch des Herrn schrieb, ist unbekannt – sie erschien unter dem Titel The Lord’s Table: Who Has It? ohne Jahresangabe im Verlag Loizeaux Brothers. Den Hintergrund bildeten vermutlich die Gespräche mit anderen „Brüder“-Gruppen, die den Tisch des Herrn für sich allein beanspruchten. Das Fazit von Loizeaux’ Überlegungen lautete:

Es gibt auch nur einen Tisch des Herrn; der andere ist „der Tisch der Dämonen“ (1. Kor. 10, 21), und der Tisch des Herrn ist da, wo der „eine Leib“ des Herrn ist. Er gab ihn der „Versammlung, welche sein Leib ist“, und eine jede Teilkirche, die dessen ausschließlichen Besitz für sich in Anspruch nehmen würde, wäre damit ebenso stolz und überheblich, als wenn sie behaupten würde, ausschließlich der Leib des Herrn zu sein. […] Die wahre Kirche, der wahre Tisch des Herrn, die Gegenwart des Herrn in der Mitte der Seinen sind Dinge, die niemals Besitz einer Sekte sein können. Nie kann irgendein bestimmter Teil des Volkes Gottes diese Dinge in ausschließlicher Weise vorwurfslos für sich in Anspruch nehmen. Nur Hochmut kann dazu führen, und „Gott widersteht dem Hochmütigen“!6

Auch wenn in einer Gemeinde Missstände vorhanden seien, die eine Trennung erforderlich machten, bedeute das nicht, dass dort nicht mehr der Tisch des Herrn sei:

Wenn also eine Gemeinschaft von Gläubigen an Grundsätzen festhält, die durch das Wort Gottes verurteilt werden, oder wenn sie ungerecht handelt und sich weigert, Buße zu tun oder von der Ungerechtigkeit abzustehen, so können wir dennoch nicht behaupten, daß sie nicht mehr des Herrn Gegenwart in ihrer Mitte genießen oder den Tisch des Herrn haben. Diese Frage zu beantworten ist nicht unsere Angelegenheit. Wir haben nur einfach Gott in allen Dingen, die Sein Wort uns anbefiehlt, zu gehorchen.7

Als diese Äußerungen – und ähnliche von Samuel Ridout (1855–1930), einem anderen führenden „Grant-Bruder“ – Rudolf Brockhaus zu Gesicht kamen, reagierte er beunruhigt:

Hört und liest man doch heute oft Worte, die man bisher in der Mitte und in den Schriften der Brüder nicht zu hören oder zu lesen gewöhnt war. Es werden Ansichten geäußert, die befürchten lassen, daß man Grundsätze, die früher für göttlich gehalten wurden, bereits aufgegeben hat, oder daß man doch in Gefahr steht, sie aufzugeben.8

Als Beispiele zitiert Brockhaus zunächst zwei Sätze von Ridout:

So lehrt man z.B. in Verbindung mit der uns beschäftigenden Frage: „Der Tisch des Herrn wurde einst für Seine ganze Kirche gegeben und kann von diesem Gesichtspunkt aus von keiner Vereinigung von Gläubigen für sich, unter Ausschluß anderer, in Anspruch genommen werden“. Oder: „Der Besitz des Tisches des Herrn steht mit der Stellung des Christen in Verbindung und nicht mit seiner Treue im Wandel“.9

Dann folgt die bereits oben zititerte Äußerung von Loizeaux:

Ja, man hat sogar geschrieben: „Wenn eine Vereinigung von Christen Grundsätze festhält, die das Wort Gottes verurteilt, oder ein Unrecht begeht und sich nun weigert, im Gehorsam gegen Gott Buße zu tun, oder von der Ungerechtigkeit abzustehen, so maßen wir uns nicht an zu sagen, daß sie nicht länger des Herrn Gegenwart oder des Herrn Tisch in ihrer Mitte habe“. Das sind, wie gesagt, Worte, die mit dem, was wir bisher gehört und gelernt haben, in unmittelbarem Widerspruch stehen. Es ist aber immer eine ernste Sache, die alten Grenzen, die die Väter gesetzt haben, zu verrücken. Gottes Wort warnt uns davor in Sprüche 22, 28.10

Brockhaus hatte Ridout seine Bedenken zunächst brieflich mitgeteilt (12. Mai 1925, mitunterzeichnet von Johannes Nicolaas Voorhoeve) und verarbeitete sie anschließend zu dem bekannten Botschafter-Artikel „Der Tisch des Herrn“, der auch als separate Broschüre11 erschien:

Sie [die nachstehenden Gedanken] wurden anläßlich eines Briefwechsels über eine Zuchtfrage, deren Entscheidung eine schmerzliche und weitgehende Trennung nach sich gezogen hat,12 niedergeschrieben, um beide Seiten noch einmal an die einfachen Grundlinien des Wortes Gottes zu erinnern, sowohl hinsichtlich der Feier des Abendmahls und des Zusammenkommens im Namen Jesu „außerhalb des Lagers“, als auch einiger mit dem Tische des Herrn in Verbindung stehender Wahrheiten.13

Mit Loizeaux konnte sich Brockhaus nicht mehr persönlich auseinandersetzen, da er zu dieser Zeit schon nicht mehr unter den Lebenden weilte. Er starb am 3. Oktober 1916, heute vor genau 100 Jahren, an seinem Wohnort Plainfield und wurde auf dem Hillside Cemetery in Scotch Plains begraben.

Ironside fasst seinen Dienst wie folgt zusammen:

cultured and of magnetic personality, he became a spirit-filled and flaming evangelist and went everywhere proclaiming the Word, in self-denying dependence on the Lord.14

Später nennt er ihn noch

the able evangelist whose fiery eloquence had made him the outstanding preacher in this particular section of the movement.15

Online zugängliche Biografien Loizeaux’ sind mir keine bekannt. Die obigen Informationen entstammen im Wesentlichen den Büchern von Noel,16 Ironside17 und Ouweneel,18 überprüft und ggf. korrigiert durch die Broschüre A Good Soldier of Jesus Christ. A Short Memoir of Paul J. Loizeaux von Samuel Ridout (New York [Loizeaux Brothers] o.J.).


Schaubilder zur Geschichte der Brüderbewegung

In dem Buch Was uns die Bibel lehrt (CV Dillenburg 2001) ist auf Seite 75 ein Schaubild zur Geschichte der deutschen Brüderbewegung abgedruckt, das ich etwas erweitert und modifiziert habe (zum Vergrößern anklicken):

bruedergeschichte_deutschland

Gegenüber der Vorlage habe ich u.a. die Raven-Brüder hinzugefügt (auch wenn sie heute zahlenmäßig unbedeutend sein mögen), außerdem die Glanton-Brüder (deren deutsche Geschichte noch weitgehend im Dunkeln liegt), die Abwanderung aus dem BEFG nach der Wende in der DDR sowie die „blockfreien“ Neugründungen (z.B. in Süddeutschland). Die variierende Balkenbreite soll einen groben Eindruck von den Größenverhältnissen geben (das kann natürlich nur annähernd geschehen). Zwischen Brüder- und Baptistengemeinden im BEFG habe ich eine dünne weiße Linie gelassen, da von einem wirklichen Zusammenschluss bis heute ja eigentlich nicht die Rede sein kann.

Überraschend mag vielleicht der Pfeil von den Raven- zu den Offenen Brüdern 1904/05 erscheinen. Meines Wissens ist in der Brüdergeschichtsliteratur bis heute nicht ausreichend gewürdigt worden, dass etliche namhafte Offene Brüder in Deutschland von den Raven-Brüdern herkamen, so etwa Christian Schatz (1897–1900 Herausgeber der Raven-Zeitschrift Worte der Gnade und Wahrheit!), Albert von der Kammer, Ferdinand Braselmann oder Ferdinand Hilliges. Oft nahmen diese Brüder beim Übertritt „ihre“ Versammlungen mit (z.B. Albert von der Kammer in Wolgast). Noch in den 1920er Jahren druckte Christian Schatz in seiner Zeitschrift Saat und Ernte gelegentlich Texte von Stoney, Coates oder Raven ab, und auch die eigentümliche damalige Lehre der Offenen Brüder über den Tisch des Herrn (vgl. die Broschüren von Braselmann, Schatz, Schreuder und von der Kammer) ist wahrscheinlich von ihrer Raven-Herkunft beeinflusst.

Ein vergleichbares Schaubild zur angloamerikanischen Brüdergeschichte wurde in den 1980er Jahren von Grant W. Steidl erstellt. Mir liegen davon zwei Versionen vor:

brethren_history_steidl_hawke

brethren_history_steidl_jamieson

Einige wichtige Gruppen fehlen hier allerdings, so z.B. der „Needed-Truth“-Zweig der Offenen Brüder, der „Independent“-Zweig der Grant-Brüder und die verschiedenen Raven-Abspaltungen. Außerdem kann man wohl nicht von einer generellen Vereinigung der Grant- und Stuart-Brüder 1885 sprechen.