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150. Todestag von Wilhelm Alberts

„Alberts, Schwarz, Bröcker, Weber, Eberstadt, Effey“ – diese Namensliste ist in nahezu jeder ausführlicheren Darstellung der deutschen Brüdergeschichte zu finden.1 Es handelt sich um die sechs Brüder, die am 11. Dezember 1852 zusammen mit Carl Brockhaus aus dem Evangelischen Brüderverein austraten bzw. austreten mussten, weil sie sich die Ansichten John Nelson Darbys zu eigen gemacht hatten. Über die meisten von ihnen wissen wir kaum mehr als die Namen; nur Wilhelm Alberts ist uns dank der Nachforschungen des letzten Brüdervereinsvorsitzenden Hans Horn etwas besser bekannt.2

Bildquelle: http://www.wiehl.de/bilder/drinhausenbig.jpg
Wiehl um 1850

Wilhelm Alberts wurde am 5. April 1823 in Dörnen bei Wiehl (heute ein Stadtteil im Südwesten Wiehls) geboren und erlernte das Handwerk des Klempners oder Blechschlägers. Durch den Nümbrechter Pfarrer Ernst Hermann Thümmel (1815–1887) kam er zum Glauben und erhielt bald Gelegenheit, in „erweckten“ Versammlungen das Wort zu ergreifen. 1850 trat er in den neu gegründeten Evangelischen Brüderverein ein und wurde für ein Tagesgehalt von 20 Silbergroschen hauptamtlicher „Lehrbruder“. Max Goebel, ein landeskirchlicher Kritiker des Brüdervereins, berichtete 1854, dass Alberts

zuerst in den Gemeinden Lennep und Lüttringhausen, und später in verschiedenen Gemeinden der Aggersynode sehr stark besuchte aber auch heftig angefeindete Versammlungen hielt. Während seines anfänglichen Wirkens in der Synode Lennep machte er auf die dortigen Pfarrer theilweise den Eindruck eines bescheidenen, wohlmeinenden, gläubigen Mannes […]. Alberts verbreitete seit 1852 bedenkliche Lehren von der Unverlierbarkeit des Gnadenstandes, der absoluten Prädestination und seiner Sündlosigkeit, so daß nun selbst die frömmeren und entschiedeneren Pfarrer der Aggersynode sein Treiben je länger je mehr mißbilligten. So hat er Pfingsten 1852 zu Nallingen in der Gemeinde Marienberghausen das heilige Abendmahl unter Gesang, Schriftlesung und abwechselnden knieenden Gebeten mehrer Brüder mit 12–14 (später gar mit 40) Personen beiderlei Geschlechts durch gegenseitige Austheilung von ungesegnetem Weißbrod und Wein (aus einer Tasse) gefeiert, was er selber aber nur ein Liebesmahl oder eine testamentliche Handlung nannte. Diese Feier wurde monatlich gehalten. Alberts selber war schon 1852 Wiedertäufer geworden, indem er sich mit einigen Anverwandten – wahrscheinlich von Lindermann3 – wiedertaufen ließ; und sammelte in seiner Heimath aus Verwandten und Freunden eine Gemeinde von zwanzig Personen, die 1853 ihren Austritt aus der evangelischen Kirche förmlich notariell erklärten.4

Vorausgegangen war dieser Gemeindegründung die „darbystische Krise“5 im Brüderverein. Horn schreibt:

Aus den fragmentarischen Berichten hinsichtlich des Inhaltes seiner [Alberts’] Predigt kann man die Spuren einer immer stärkeren Hinwendung zu den speziellen Lehren der sogenannten Brüderbewegung erkennen, die durch den Engländer John Nelson Darby einen mächtigen Auftrieb in Europa erfuhr. […] Es ist keine Frage, daß im Brüderverein Alberts neben Carl Brockhaus der entschiedenste Verteidiger der Lehren der Brüderbewegung war.6

Da der Brüderverein keine „separatistischen Bestrebungen“ duldete, wurden Alberts und seine Freunde am 11. Dezember 1852 zum Austritt gedrängt. Für Alberts hatte das durchaus existenzielle Konsequenzen: Er musste sich wieder einen Brotberuf suchen und begann als „Ackerer“ in der Landwirtschaft zu arbeiten. Seine Predigttätigkeit setzte er jedoch fort – nun freilich unter noch größeren Anfeindungen. Im Siegerland beispielsweise wurde er 1853 einmal verhaftet, und die zum „Liebesmahl“ Versammelten wurden von der Polizei auseinandergetrieben.

Die von Alberts an seinem Wohnort Großfischbach gegründete Gemeinde, die auch Carl Brockhaus auf seinen Reisen wiederholt besuchte, wurde „Brüderverein der Gläubigen“ oder „Freie Brüdergemeinde“ (!) genannt. Horn kommentiert:

Ganz entsprechend dem ihnen eigenen Gemeindeverständnis vermeidet man jede Bezeichnung, die als eine neue Freikirche verstanden werden könnte. Wie ernsthaft das Bestreben war, sich auf den Bahnen der Urgemeinde zu bewegen, erkennt man an dem interessanten Vorschlag, der bei einer Versammlung in der Gemeinde Marienberghausen unterbreitet, aber dann doch nicht verwirklicht wurde, nämlich die Gütergemeinschaft unter den Gläubigen einzuführen. […] Die Versammlungen selbst verliefen nach Auskunft des Bürgermeisters Möller „still und friedlich“, ihren Teilnehmern stellte er in „moralischer und sittlicher Beziehung“ ein sehr gutes Zeugnis aus.7

Wilhelm Alberts wurde nur 42 Jahre alt. Der „rastlose Wanderprediger“8 starb heute vor 150 Jahren in Rumeln im Kreis Moers (heute ein Stadtteil von Duisburg). Seine Nachwirkung fasst Horn wie folgt zusammen:

Die zahlreichen Kleinkreise der Brüderbewegung, die unmittelbar oder mittelbar von ihm gegründet wurden, haben ihn überlebt, aber im Laufe der Jahrzehnte seinen Namen auf Grund ihrer gewollten Interessenlosigkeit an der Geschichte verblassen lassen oder sogar vergessen. Wie viele es gewesen sind, läßt sich nicht mehr feststellen. Aber wir dürfen aus den vorhandenen Quellen schließen, daß die ältesten Zellen der Brüderbewegung im Oberbergischen, im Siegerland, und auch in angrenzenden Gebieten zu einem großen Teil auf diesen Vorkämpfer reiner geistgewirkter Christengemeinden zurückgehen.9

Die 20-seitige Arbeit von Horn ist auf bruederbewegung.de digital zugänglich.


150. Todestag von William Trotter

trotter
William Trotter

William Trotter ist der Nachwelt vor allem als Verfasser der Schrift The Whole Case of Plymouth and Bethesda in Erinnerung geblieben, einer wichtigen, wenn auch etwas einseitigen zeitgenössischen Darstellung der Vorgänge, die 1848 zur Trennung zwischen Geschlossenen und Offenen Brüdern führten (die heute erhältliche Ausgabe trägt den Titel The Origin of (so-called) Open-Brethrenism; eine stark bearbeitete deutsche Übersetzung erschien – wahrscheinlich in den späten 1930er Jahren – beim Raven-Verlag Rückbrodt in Leipzig). Weniger bekannt ist, dass Trotter auch zwei umfangreiche Bände über Prophetie (die fast 500-seitigen Plain Papers on Prophetic and Other Subjects [PDF] und die knapp 200-seitigen Eight Lectures on Prophecy) sowie einige kleinere Schriften hinterließ.1

Geboren 1818 in Newcastle upon Tyne,2 kam Trotter mit 12 Jahren zum Glauben und begann bereits zwei Jahre später zu predigen. Mit 19 Jahren wurde er zum Prediger der Methodist New Connexion berufen. Zweifel an der Berechtigung des geistlichen Standes und eine Meinungsverschiedenheit mit der Kirchenleitung über die finanzielle Versorgung der Prediger und ihrer Witwen führten jedoch 1841 dazu, dass er sein Amt niederlegen musste;3 spätestens 1844 gehörte er der jungen Brüdergemeinde in Otley an. Er wurde ein treuer Freund und Gefolgsmann des 18 Jahre älteren John Nelson Darby, von dem er folgenden bekannt gewordenen Ausspruch überlieferte:

The secret of peace within and power without is to be occupied with good – ever and always to be occupied with good.4

William Trotter wurde nur 47 Jahre alt. Er starb heute vor 150 Jahren in Falsgrave bei Scarborough (North Yorkshire).5 Neatby schreibt über ihn:

William Trotter of York, an ex-Methodist minister, is more highly spoken of by every one that knew him than almost any other Plymouth Brother; and his untimely death, while he was yet under fifty, was felt to be a heavy loss of the kind that Christians can least afford.6

Online zugängliche Kurzbiografien Trotters stammen von Henry Pickering, John Bjorlie  und Gordon A. Rainbow.


Historische Adressbücher der deutschen Brüderbewegung

Das antikonfessionelle Selbstverständnis der Brüderbewegung brachte es mit sich, dass einige Jahrzehnte vergingen, bevor (mehr oder weniger offizielle) Versammlungsverzeichnisse erstellt wurden. In Großbritannien scheint dies zuerst 1873 bei den Geschlossenen Brüdern der Fall gewesen zu sein:1 Im Januar dieses Jahres erschien eine 26-seitige List of Meetings, deren Herausgeber sich hinter den (zweifellos pseudonymen) Initialen „Y. Z.“ versteckte, aber immerhin seine Adresse angab. Aktualisierte Auflagen folgten 1877 und 1882. John Nelson Darby betrachtete solche Verzeichnisse eher skeptisch, unternahm aber nichts dagegen:

As to the danger of slipping into sectarianism, that is, making ourselves a body apart, I recognise it fully […]. The printed list of meetings tended to it, for evil slips in unintentionally, and for this reason I never would have anything to say to it, though very convenient, and done with this view.2

Alle drei Ausgaben der List of Meetings verzeichneten in einem unpaginierten Anhang auch ausgewählte Versammlungen im Ausland:

The following is not intended in any way as a complete list. A few only are given, to whom reference can be made.

Aus Deutschland wurden jeweils zehn vorwiegend großstädtische Versammlungen genannt, aber nicht jedes Mal dieselben: Elberfeld, Düsseldorf, Mühlheim (bei Köln), Wiesbaden, Breslau, Stuttgart und Tübingen erschienen in allen Verzeichnissen; 1873 wurden sie um Homberg am Rhein, Offenbach und Mannheim ergänzt, 1877 und 1882 dagegen um Berlin, Hamburg und Frankfurt am Main.

Ein noch detaillierteres Adressbuch, das offenbar auch für das Ausland Vollständigkeit anstrebt, wurde 1880 anonym unter dem schlichten Titel References veröffentlicht. Es liegt in zwei (allenfalls minimal voneinander abweichenden) Versionen vor, die auf Februar 18803 bzw. März 1880 datiert sind. Nach 61 Seiten Versammlungsadressen, -zeiten und Kontaktpersonen aus Großbritannien und Irland beginnt die Seitenzählung wieder von vorn, und es folgen 28 Seiten „Foreign References“. Deutschland ist mit 209 Versammlungen vertreten (nach Provinzen geordnet), von denen sich allerdings mindestens 46 heute außerhalb der deutschen Grenzen befinden4 (wie bereits Breslau in den zuvor erwähnten Verzeichnissen).

Eine vergleichbar umfassende Liste der deutschen Versammlungen aus dem 19. Jahrhundert ist sonst nicht bekannt; in Deutschland selbst erschien erst um 1905 ein erstes eigenes Verzeichnis. Nach der mir vorliegenden digitalen Version zu urteilen, enthält es nicht nur keinen Herausgebernamen und kein Erscheinungsjahr, sondern noch nicht einmal einen Titel; die Datierung „um 1905“ ergibt sich aus einer handschriftlichen Notiz auf einem anderen Exemplar.5 Auf 49 Seiten werden (wiederum nach Provinzen geordnet) immerhin 453 Geschlossene Versammlungen im damaligen deutschen Reichsgebiet genannt, also mehr als doppelt so viele wie 1880; etwa 102 der Orte gehören heute nicht mehr zu Deutschland. Sieben weitere Seiten des Büchleins sind Österreich-Ungarn (3 Versammlungen) und der Schweiz (34 Versammlungen) gewidmet.

Möglicherweise handelte es sich bei diesem titellosen Verzeichnis bereits um die erste Auflage des Kleinen Wegweisers; unter diesem Titel erschien jedenfalls spätestens seit der Zeit des Ersten Weltkriegs alle drei bis fünf Jahre ein quasi offizielles Adressbuch der deutschen Geschlossenen Brüder, in dem nicht nur Versammlungsorte und Kontaktpersonen, sondern auch die Zeiten der Zusammenkünfte mitgeteilt wurden. Herausgeber war Fritz Feldhoff (1874–1950) aus Duisburg, von Beruf Prokurist, ab 1925 vollzeitlicher „Reisebruder“.6 Die älteste mir zugängliche Ausgabe stammt vom Juli 1920; ihr Vorwort beginnt folgendermaßen:

Zum drittenmal erscheint der „Der kleine Wegweiser“, allerdings diesmal verändert. Im Kriege hat er hauptsächlich den Soldatenbrüdern gedient; nun möchte er allen Geschwistern, besonders denen, die oft auf Reisen sind, beim Aufsuchen der Versammlungen eine Hilfe sein. Unser Heft will es ermöglichen, die Reisen von vornherein so einzurichten, daß keine Versammlung versäumt zu werden braucht.

Mindestens die zweite, möglicherweise auch die erste Auflage des Kleinen Wegweisers muss also während des Ersten Weltkriegs erschienen sein. Die Ausgabe von 1920 listet in alphabetischer Reihenfolge insgesamt 447 Versammlungen (von denen mindestens drei auch nach damaligem Verständnis bereits im Ausland lagen7). Interessanterweise fand an etwa einem Viertel dieser Orte kein Brotbrechen statt, sondern nur „Erbauungs-“ und/oder Gebetsstunden, sodass eigentlich nur von 330 bis 345 „vollwertigen“ Versammlungen gesprochen werden kann.8

Vier weitere Ausgaben des Kleinen Wegweisers sind digital verfügbar (in wechselnder Scanqualität):

Die Ausgabe von 1936 dürfte die letzte vor dem Verbot der Geschlossenen Versammlungen im April 1937 gewesen sein. Sie verzeichnet in nun schon bewährter alphabetischer Manier 729 Versammlungen im damaligen Deutschen Reich9 – ein erstaunlicher Anstieg seit 1920. An mindestens 522, höchstens 547 Orten10 wurde das Brot gebrochen. Der Anhang bietet eine repräsentative Auswahl ausländischer Versammlungen; die Angaben für Österreich (3 Versammlungen) und die Schweiz (39 Versammlungen) könnten vollständig sein.

Auch die Offenen Brüder empfanden – vielleicht wegen ihrer starken Betonung der Unabhängigkeit der Ortsgemeinde – offenbar erst spät das Bedürfnis nach einem Adressbuch. 1897 brachte Joseph W. Jordan eine erste List of Some Meetings in the British Isles and Regions Beyond heraus,11 1904 folgte eine zweite Auflage. In deren internationalem Teil sind auch 20 deutsche Gemeinden verzeichnet, und zwar in Berlin,12 Rehe (Westerwald), Bad Homburg, Beeck (bei Duisburg, zwei Adressen), Beuel (bei Bonn), Duisburg, Elberfeld, Bad Godesberg, Holten (bei Oberhausen), Kupferdreh (bei Essen), Neviges (bei Velbert), Solingen, Velbert, Vohwinkel, Wermelskirchen, Dresden, Leipzig, Klafeld (bei Siegen), Grüne (bei Iserlohn) und Stuttgart.

Das älteste in Deutschland selbst erschienene Adressbuch der Offenen Brüder trägt den schlichten Titel Anschriftenverzeichnis und wurde bei Zeuner & Co. in Bad Homburg gedruckt. Angaben über Herausgeber und Erscheinungsjahr fehlen; das im Christian Brethren Archive in Manchester aufbewahrte Exemplar ist jedoch mit dem handschriftlichen Vermerk „Septb. 1923“ versehen. Enthalten sind insgesamt 206 Adressen, bei denen es sich allerdings zum großen Teil um Einzelpersonen und nicht um Gemeinden zu handeln scheint; nur bei 66 Adressen werden Veranstaltungszeiten genannt, bei 56 davon auch Zusammenkünfte am Sonntag (also ggf. Brotbrechen13). Ergänzend werden 24 Adressen in Holland (davon 17 mit Veranstaltungszeiten) und 9 Adressen in der Schweiz (alle ohne Veranstaltungszeiten) mitgeteilt.

Eine zweite Auflage dieses Verzeichnisses liegt mir nicht vor, jedoch eine dritte (Juni 1927)14 und eine vierte (September 1932). Als Herausgeber firmiert in der dritten Auflage Christian Schatz, in der vierten Fritz Koch, Christian Schatz und Johannes Warns. Die dritte Auflage enthält 288 Adressen, davon 147 mit Veranstaltungszeiten, davon wiederum 123 am Sonntag; in der vierten, leider sehr unübersichtlich gestalteten sind bereits 211 Adressen mit dem Vermerk „VR“ (= Versammlungsraum) und/oder mit Veranstaltungszeiten versehen, davon 150 am Sonntag, davon wiederum 101 eindeutig als „B“ (= Brotbrechen) gekennzeichnet. Auch diese beiden Verzeichnisse werden durch Adressen im Ausland ergänzt.

Nachdem sich die Offenen Brüder 1934 lose als „Kirchenfreie christliche Gemeinden“ (KcG) organisiert hatten, traten sie 1937 in den von den Geschlossenen Brüdern gegründeten „Bund freikirchlicher Christen“ (BfC) ein und gaben – vermutlich noch im selben Jahr15 – ein Verzeichnis der ehemals „Kirchenfreien christlichen Gemeinden“ in Deutschland nunmehr Gemeinden des „Bundes freikirchlicher Christen“ heraus. Es listet in beispielloser Übersichtlichkeit 135 durchnummerierte Gemeinden mit ihren „Ortsbeauftragten“ auf, allerdings ohne Veranstaltungszeiten.

Ein Gesamtverzeichnis des BfC erschien zwischen Mai und August 1939.16 Es besteht aus einem alphabetischen und einem nach Bezirken geordneten Teil und enthält insgesamt 590 Gemeinden, davon 535 mit Brotbrechen (etwa 71 der Orte liegen heute außerhalb Deutschlands). Welche der 522 bis 729 Geschlossenen Versammlungen aus dem letzten Kleinen Wegweiser von 1936 im BfC-Verzeichnis fehlen, also offenbar dem Bund nicht beitraten, wäre eine eigene Untersuchung wert.

Aus der Nachkriegszeit teile ich hier nur noch ein Verzeichnis der Geschlossenen Versammlungen von Ende 1956 mit.17 Es verzichtet wiederum völlig auf Herausgebernamen, Titel und Erscheinungsjahr und nennt alphabetisch die Adressen, Zeiten und Kontaktpersonen von 222 Versammlungen in der damaligen Bundesrepublik, davon 213 mit Brotbrechen.


Frühe Bezeichnungen für die britische Brüderbewegung

Da die Brüderbewegung keine neue Glaubensgemeinschaft sein wollte und sich daher auch keinen offiziellen Namen beilegte, dauerte es eine Weile, bis sie in der Öffentlichkeit als Gruppe wahrgenommen wurde. Der früheste Hinweis auf die Gemeinde in Plymouth, den ich im British Newspaper Archive finden konnte, stammt aus dem Jahr 1833 und identifiziert sie nur durch den Namen der Kapelle, in der sie sich versammelte (Providence Chapel):

1833-08-24 The Western Times 3 (Plymouth)
The Western Times, 24. August 1833, S. 3

Bereits 1836 war im irischen Westport die Bezeichnung Darbyites in Gebrauch. In einer Notiz über den Kirchenaustritt von John Marsden Code heißt es:

1836-03-03 The Standard 2 (Code, Darbyites)
The Standard, 3. März 1836, S. 2
1836-03-05 The Worcester Herald 2 (Code, Darbyites)
The Worcester Herald, 5. März 1836, S. 2

Im selben Jahr ist Darbyites auch im Google-Books-Corpus zum ersten Mal belegt:

google_books_darbyites_1836
“Irish Chronicle. April, 1836.” In: The Baptist Magazine 28 (1836), S. 165–168, hier 166

Der Name Plymouth Brethren lässt sich – sowohl im British Newspaper Archive als auch in Google Books – erst zwei Jahre später nachweisen. 1838 druckte die Hereford Times einen kurzen Artikel der Sunday Times über den Gottesdienstbesuch in Hereford nach und listete dabei als kleinste „Dissenter“-Gemeinde auch die „Plymouth Brethren“:

1838-03-31 The Hereford Times 4 (PB)
The Hereford Times, 31. März 1838, S. 4

Einige Monate später erwähnte die Zeitschrift The Evangelical Register die „Plymouth Brethren“ im Zusammenhang mit dem Kirchenaustritt von William Henry Dorman (Erstbeleg des Namens in Google Books):

google_books_plymouthbrethren_1838
“Miscellaneous.” In: The Evangelical Register 10 (1838), November-Heft, S. 500

Die Formulierung “known as” deutet darauf hin, dass der Name bereits eine Weile in Umlauf war; dennoch ist auffallend, dass die völlig verschiedenen Corpora von British Newspaper Archive und Google Books sowohl bei Darbyites als auch bei Plymouth Brethren jeweils auf exakt dasselbe Jahr verweisen.

An manchen Orten mussten diese Namen zunächst noch mit lokalen Sonderbezeichnungen wie Newtonites (Plymouth), Hallites (Plymouth, später Hereford), Müllerites (Bristol) oder Chapmanites (Barnstaple) konkurrieren. Aufschlussreich ist z.B. folgende Notiz aus dem Monthly Magazine vom Oktober 1839 (Google Books):

google_books_pb_etc_1839
“Quakerism and Quakers.” In: The Monthly Magazine 2 (1839), Heft 10, S. 417–431, hier 431

In Plymouth selbst dürfte es am längsten gedauert haben, bis der – hier wenig aussagekräftige – Name Plymouth Brethren sich als Gruppenbezeichnung etablierte. Noch 1840 kam ein Artikel über den Neubau des Saals in der Ebrington Street völlig ohne diesen Namen aus:

1840-02-21 The Cornwall Royal Gazette 4 (Plymouth)
The Cornwall Royal Gazette, 21. Februar 1840, S. 4

Die Bezeichnung Providence people spiegelt offenkundig noch den ursprünglichen Versammlungsort, die 1831 von Wigram erworbene Providence Chapel, wider; bemerkenswerterweise wurden Zusammensetzungen mit Providence zu dieser Zeit aber auch in anderen Städten verwendet – und hätten so vielleicht durchaus eine Alternative zu Plymouth Brethren werden können. In Exeter, etwa 70 km nordöstlich von Plymouth gelegen, hieß es z.B. im April 1840:

1840-04-02 Trewman's Exeter Flying-Post 2 (Exeter)
Trewman’s Exeter Flying-Post, 2. April 1840, S. 2

Im benachbarten Crediton wurde der Name im selben Jahr zu provident society verballhornt (was wörtlich etwa „Fürsorgegesellschaft“ oder „Unterstützungsverein“ bedeuten würde1):

1840-02-22 The Western Times 3 (Crediton)
The Western Times, 22. Februar 1840, S. 3

Im Laufe der 1840er Jahre scheint sich schließlich Plymouth Brethren als Bezeichnung flächendeckend durchgesetzt zu haben. Darbyites begegnet noch einige Male vor allem in irischen Quellen, nimmt dann aber auch ab – möglicherweise weil das Wort in den 1850er und 1860er Jahren eine neue politische Bedeutung bekam: Die Anhänger des britischen Premierministers Lord Derby, eigentlich Derbyites genannt, wurden in der Presse oft ebenfalls (fälschlicherweise?) Darbyites geschrieben (die Aussprache ist dieselbe). Hier ein Beispiel:

1852-07-06 Dublin Evening Post 2 (Darbyite)
Dublin Evening Post, 6. Juli 1852, S. 2

John Nelson Darby über den Gott des Islam

Für die meisten „konservativen“ oder „bibeltreuen“ Christen steht heute völlig außer Frage, dass der Gott des Islam ein anderer ist als der Gott der Christen. Die Argumentation läuft in der Regel auf folgenden einfachen Syllogismus hinaus:

Prämisse 1: Der Gott der Muslime hat keinen Sohn.
Prämisse 2: Der Gott der Christen hat einen Sohn.
Schlussfolgerung: Der Gott der Muslime ist ein anderer als der Gott der Christen.

Dieser Schluss ist allerdings nur dann zwingend, wenn Prämisse 1 eine wahre Aussage ist – und zwar nicht nur eine wahre Aussage über den Glauben der Muslime, sondern über ihren Gott. Aber kann man das mit Gewissheit sagen? Kann es nicht sein, dass die Muslime sich irren, d.h. dass ihr Gott einen Sohn hat, sie es aber nicht wissen (und daher bestreiten)?

darby
John Nelson Darby

Die Väter der Brüderbewegung im 19. Jahrhundert scheinen über diesen Punkt viel weniger „fundamentalistisch“ gedacht zu haben. Wenn man sich z.B. einmal John Nelson Darbys verstreute Äußerungen über den Islam ansieht, gewinnt man durchaus den Eindruck, dass er den Gott der Christen und den Gott der Muslime für identisch hielt (auch wenn er das Gottesbild der Muslime natürlich ablehnte). So schreibt er etwa in Familiar Conversations on Romanism (CW 22:21):

The Mahometans count by many millions – I do not know how many, but I dare say some sixty millions. They own God, and Christ to be a prophet and judge of quick and dead, but not as Son of God.

“They own God”, d.h. sie erkennen Gott an; das hätte Darby sicher nicht so formuliert, wenn er der Meinung gewesen wäre, dass der Gott des Islam ein völlig anderer wäre als der Gott der Christen.

In The Irrationalism of Infidelity schreibt Darby (CW 6:16):

Mohammedanism has borrowed much from revelation; but it has met the lusts of men as on God’s part, who, as He is there represented, will and does satisfy them: Christianity does so not even in thought.

Der Islam hat also vieles von der (biblischen) Offenbarung übernommen, nur hat er sich sein eigenes, die „Lüste der Menschen“ befriedigendes Gottesbild zurechtgelegt. Die Formulierung “as He is there represented” (man beachte die Großschreibung von “He”!) weist m.E. eindeutig darauf hin, dass die Muslime nach Darby denselben Gott anbeten wie wir, aber eine falsche Vorstellung (representation) von ihm haben.

Weiter hinten in derselben Schrift heißt es (CW 6:161):

They [the Arabs] believe, I suppose, that God made the sun, and yet this is true, though they have Mohammedan superstitions connected with it. So of many facts of Jewish history connected with Abraham, Ishmael, Esau, the passage of Israel through the desert. As in the case of all nations who derive their origin from those who were at the sources of truth, you see proofs of the existence of that truth mixed up with superstitious traditions.

Auch hier macht Darby überhaupt keinen Versuch, den Gott des Islam von unserem Gott zu unterscheiden. Die Araber, so sagt er, glaubten zu Recht, dass Gott die Sonne erschaffen habe, fügten aber allerlei abergläubische muslimische Vorstellungen hinzu. Da sie von denen abstammten, die „an den Quellen der Wahrheit waren“, sehe man im Islam immer noch „Beweise für die Existenz jener Wahrheit“, allerdings mit abergläubischen Traditionen vermischt.

Schließlich noch ein Zitat aus Review of Leckey’s Rationalism (NC 2:264):

I understand compassion on ignorance, but surely if I have rejected the true God, and worship Venus, or accept Mahomet as a prophet, there is some moral depravity.

Hier nennt Darby zwei Beispiele für falsche Religionen: den Venuskult und den Islam. Es wäre ein Leichtes gewesen zu schreiben: „wenn ich den wahren Gott verworfen habe und Allah verehre“, aber so charakterisiert Darby den Islam eben nicht, sondern er sagt: „[wenn ich] Venus verehre oder Mohammed als Propheten anerkenne“. Das Wesen des Islam bestand für ihn also offenbar nicht darin, einen anderen Gott zu verehren (wie es der Venuskult tat), sondern Mohammed als Propheten anzuerkennen.

Des Öfteren stellt Darby den Islam übrigens mit dem Katholizismus auf eine Stufe, z.B.:

Take Popery, Mohammedanism, all manner of heretics: these are tares which have been sown where the good seed had been. (CW 11:281)
Taking in Christendom as a whole, what do we see? Mohammedanism has overrun the eastern part and Popery the western. (CW 34:114)

Dies könnte darauf hindeuten, dass er zu der traditionsreichen Auffassung tendierte, der Islam sei eine „christliche Häresie“. All das bedarf aber noch weiterer Erforschung.

Verwandtschaften unter den frühen „Brüdern“

wigram
George Vicesimus Wigram

Max Weremchuk schreibt in seinem zweiten J.N. Darby Research Paper:

Early Brethren history almost reads like a “family affair”.

Ich habe mich in den letzten Wochen einmal intensiver mit den Familien einiger „Brüder“ der ersten Generation beschäftigt und die Ergebnisse in das Genealogie-Wiki WeRelate eingetragen. Hier ein paar Belege für Weremchuks Behauptung:

  • Parnells erste Frau Nancy war die Schwester von Cronin.

Auch innerhalb der nicht zur Brüderbewegung gehörenden Verwandtschaft gab es Verbindungen:

  • Parnells Schwester Emma Jane heiratete einen Cousin von Wigrams erster Frau Frances Bligh.

Um noch einmal Max Weremchuk zu zitieren:

These interconnections are amazing!! […] all these families knew each other and had contacts with each other.

Erich Geldbach über Darby und den Dispensationalismus

Kürzlich ist erschienen:

Erich Geldbach: „Der Dispensationalismus“. In: Theologische Beiträge 42 (2011), S. 191–210.

Mehr als die Hälfte des Aufsatzes ist John Nelson Darby gewidmet. Die Darstellung stützt sich in weiten Teilen auf Originalzitate; allerdings werden Darby auch Auffassungen unterstellt, die erst spätere Dispensationalisten entwickelten (z.B. Scofields System der sieben Dispensationen oder die Begründung der heilsgeschichtlichen Einteilung mit 2Tim 2,15b [“rightly dividing the word of truth”]). Irreführend sind die Behauptungen, nach Darby wäre das Kreuz nicht nötig gewesen, wenn die Juden Jesus angenommen hätten, und die Bergpredigt habe „für die Nachfolge Christi keine Bedeutung“. Im Abschnitt über die Auswirkungen des Dispensationalismus kritisiert Geldbach mit Recht die falschen Prophezeiungen Hal Lindseys (Alter Planet Erde wohin?) und die fiktiven Endzeitszenarien Tim LaHayes (Finale), verschweigt aber, dass es auch seriöse dispensationalistische Theologen gibt, die keine endzeitlichen Spekulationen betreiben und keine politische Agenda verfolgen.

Die frühen „Brüder“ und der Calvinismus

Mark R. Stevenson untersucht in seinem Artikel “Early Brethren Leaders and the Question of Calvinism” (Brethren Historical Review 6 [2010], S. 2–33) die Haltung der frühen „Brüder“ zum Calvinismus und kommt zu folgendem Schluss (Hervorhebungen durch mich):

Our study has shown that soteriological Calvinism was a firm conviction among the prominent leaders of the early Brethren movement. They were strict Calvinists who rejected the extremes of both high and hyper-Calvinism, and although they were not preoccupied with the doctrines of grace, neither were they afraid to profess their allegiance to those doctrines as precious truths of the faith. With Mackintosh we see a new attitude emerging. Although he accepted the basic tenets of Calvinism, he eschewed the Calvinist label not only to distance himself from the abuses of hyper-Calvinism that were common in his day, but also in an attempt to reject the wider Reformed system of theology which contradicted important Brethren distinctives. Mackintosh’s attitude is a logical outgrowth of the development of Brethren ideals, but later writers would abandon all vestiges of Calvinism, perhaps taking Mackintosh’s attitude to its logical conclusion. Be that as it may, it should now be obvious that the spirit of antagonism toward Calvinism that currently runs through the movement is, for better or worse, a departure from its origins.

Wichtig scheint mir hier der Hinweis, dass es nur um “soteriological Calvinism” geht, also um die „fünf Punkte“, und nicht um andere calvinistische Lehren wie z.B. Bundestheologie, „Kirche von Adam an“, Gültigkeit des Gesetzes usw. Aber auch bei den „fünf Punkten“ muss man sich fragen, ob die noch im Werden begriffene „Brüdertheologie“ der allerersten Jahre unbedingt als Vorbild für heute gelten muss. Von Darby z.B. werden fast nur Zitate aus der frühesten Zeit in Oxford angeführt; aus seiner Spätzeit kommen nur die bekannten Äußerungen zum freien Willen zur Sprache (inkl. Kontroverse mit Moody). Stevensons Einschätzung

In Darby’s voluminous literary output, he does not manifest a fixation on Calvinist doctrines. He did defend them when necessary, but for Darby those doctrines seemed to be settled; his attention was focused more on developing issues related to ecclesiology and eschatology.

scheint mir eine interessegeleitete Verharmlosung der Unterschiede zu sein, stehen doch gerade Darbys Ekklesiologie und Eschatologie in klarem Widerspruch zum Calvinismus.

John Nelson Darby – ein Fundamentalist?

John Nelson Darby gilt heute vielen – auch unter seinen Verehrern – als einer der Väter, wenn nicht als der Vater des modernen protestantischen „Fundamentalismus“.1 Dabei wird häufig übersehen, dass er auf manchen Gebieten erstaunlich „unfundamentalistisch“ und tolerant dachte. Zwei davon möchte ich hier vorstellen.

Länge der Schöpfungstage
darby
John Nelson Darby

Im heutigen Junge-Erde-Kreationismus ist die Länge der Schöpfungstage nicht verhandelbar: Es muss sich um „gewöhnliche Tage“ à 24 Stunden gehandelt haben, alles andere wäre Bibelkritik. Darby sah dies wesentlich gelassener. Einerseits schreibt er in Hints on the Book of Genesis (CW 19:57, Übersetzung von mir):

Ich selbst glaube, dass es sechs Tage von je vierundzwanzig Stunden waren, denn ich habe keinen biblischen Grund dagegen.

Andererseits lässt er im Second Dialogue on the Essays and Reviews erkennen, dass er auch mit abweichenden Auffassungen kein grundsätzliches Problem hatte (CW 9:104f.):

Ich habe keine Meinung und keinen moralischen Einwand dagegen, die Tage als ausgedehnte Perioden aufzufassen, aber es erscheint mir ein wenig gezwungen/gekünstelt.

„Ein wenig gezwungen/gekünstelt“ (somewhat forced) – im Vergleich zum Vorwurf der Irrlehre oder Bibelkritik nimmt sich dieses Urteil doch recht milde aus. (Allerdings waren die frühen „Brüder“ als Vertreter der „Lückentheorie“ ja ohnehin keine Junge-Erde-Kreationisten im modernen Sinne.)

Quellen im Pentateuch

Viele „fundamentalistische“ Bibelleser sind überzeugt, dass Mose der Pentateuch vom ersten bis zum letzten Buchstaben direkt von Gott offenbart wurde (vielleicht mit Ausnahme des letzten Kapitels, das Moses Tod schildert). Auch dafür hätte Darby seine Hand nicht ins Feuer gelegt. Die in der Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts aufkommende Unterscheidung zwischen „jahwistischen“ und „elohistischen“ Teilen lehnte er zwar mit Recht als “stupid theory” ab, aber die Existenz von Quellen an sich stellte für ihn kein Problem dar, wie er im Second Dialogue on the Essays and Reviews deutlich macht (CW 9:88):

Ich hätte keine Schwierigkeit damit, zwei, zwanzig oder zwanzigtausend Dokumente [im Pentateuch] anzunehmen, vorausgesetzt, dass ich Gottes Bericht über die Ereignisse darin finde. Menschliche Vermittlung kann ich in jedem Maße zugestehen, vorausgesetzt, dass ich göttliche Sicherheit und göttliche Absicht [darin] finde.

Noch pointierter drückt er es in The Irrationalism of Infidelity aus (CW 6:183):

Es ist mir völlig gleichgültig, ob Mose fünfhundert Dokumente benutzt hat, solange das Ergebnis exakt, vollkommen und vollständig das ausdrückt, was Gott mir mitteilen wollte.

Darby besteht also nicht auf der einheitlichen Autorschaft Moses, sondern erklärt die ganze Frage letztlich für irrelevant; maßgebend für ihn ist, dass die Endgestalt des Textes Gottes autoritatives und zuverlässiges Wort ist. An der überlegenen Ironie, mit der er die Sache behandelt (“twenty thousand documents”), sollte man sich heute vielleicht ein Beispiel nehmen.