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200. Geburtstag von Conrad Ferdinand Meyer

Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898)

Normalerweise wird in diesem Blog nur an Geburts- und Todestage von Personen erinnert, die der Brüderbewegung (zumindest zeitweise) angehörten. Von dem Schweizer Dichter Conrad Ferdinand Meyer, der heute vor 200 Jahren in Zürich geboren wurde, kann dies höchstwahrscheinlich nicht gesagt werden. Allerdings ist Meyer der einzige mir bekannte namhafte deutschsprachige Schriftsteller, der die „Brüder“ nicht nur kannte, sondern sich sogar eine Weile für sie interessierte – auch wenn dies zugegebenermaßen Jahre vor seiner Hauptschaffensperiode war.

In den meisten Biografien (die neueste erschien vor zwei Monaten im Wallstein-Verlag) bleibt diese Tatsache unerwähnt, aber die in hoher Auflage verbreitete Rowohlt-Bildmonografie von 1975 wusste zu berichten:

Schon in Zürich hatte ihn Rochat mit den Darbyisten und anderen Sekten näher vertraut gemacht […].1

Mit Rochat ist der Waadtländer Romanist Alfred Rochat (1833–1910) gemeint, der ab Ende der 1850er Jahre mit Meyer befreundet war und den „Geschlossenen Brüdern“ angehörte. Heute kennt man ihn vor allem noch als Überarbeiter des Alten Testaments der Elberfelder Bibel – ein Projekt, über das er 1882 auch Meyer ausführlich berichtete (s.u.).

Seitdem ich das obige Zitat vor ca. 35 Jahren zum ersten Mal in der Rowohlt-Bildmonografie las, wollte ich mehr über diese Freundschaft und über Meyers Kontakte mit den „Brüdern“ herausfinden. Leider gibt der Autor David Jackson keine Quelle für seine Behauptung an, und es ist mir in all den Jahren trotz ausgedehnter biografischer Lektüre zu Meyer auch nicht gelungen, ein Dokument ausfindig zu machen, das genau diese Aussage belegt. 2001 habe ich sogar einmal eine E-Mail an Jackson geschrieben, die leider unbeantwortet blieb (zu seinen Gunsten will ich annehmen, dass er die Frage 26 Jahre nach Erscheinen seines Buches selbst nicht mehr beantworten konnte). Inzwischen weiß ich allerdings, dass es nicht Rochat war, durch den Meyer zum ersten Mal von den „Darbysten“ hörte, denn bereits 1853 erwähnte er sie in einem Brief – den auch Jackson kennen konnte, da er schon seit 1913 gedruckt vorliegt.

Lausanne

Louis Vulliemin (1797–1879)

Meyer hielt sich den größten Teil des Jahres 1853 in Lausanne bei dem Historiker Louis Vulliemin (1797–1879) auf, der der Evangelischen Freikirche des Kantons Waadt (Église évangélique libre du canton de Vaud) angehörte. In einem undatierten Brief, den der Herausgeber zwischen dem 29. Mai und dem 3. Juni einordnet, schrieb Meyer an seine (platonische) Freundin Cécile Borrel (1815–1894):

Ich gehe regelmäßig in die Kirche, auch wenn ich mich weder der Église libre noch den Darbysten noch den Mormonen angeschlossen habe, die hier ebenfalls ihr kleines Lokal haben.2

Mindestens einen „Darbysten“ hatte er auch persönlich kennengelernt, nämlich den Genfer Charles Eynard (1808–1876), der Vulliemin im April 1853 in Lausanne besucht hatte und den Meyer in einem Brief an seine Mutter einen „seltsame[n] Mensch[en]“ nennt.3 Zu dieser Zeit stand Meyer – trotz seines Kirchenbesuchs – dem christlichen Glauben noch distanziert gegenüber, aber dies änderte sich im weiteren Verlauf des Jahres. Am 15. Januar 1854, zwei Wochen nach seiner Rückkehr ins heimatliche Zürich, schrieb seine fromme Mutter beglückt an Vulliemin:

Der Eindruck, den ich von der moralischen und religiösen Wandlung Conrads empfangen habe, war so entschieden, dass ich dem Herrn dafür mit gefalteten Händen danke. […] Sie haben nicht zuviel gesagt. Mein Sohn ist Christ. Der Geist Gottes hat ihm seine Sündhaftigkeit vor Augen geführt. Wenn Conrad nicht seine eigene Schwachheit gefühlt hätte, wäre er nie zu Jesus gegangen, um Vergebung und die Wandlung seines Herzens zu erlangen … Er hat ein so tiefes Bewusstsein von seiner Verderbtheit und von dem göttlichen Erbarmen, dass unsere Gebete hoffentlich völlige Erhörung finden. Was ihm noch fehlt, sind Ausdauer und Beharrlichkeit […].4

Rochat

Alfred Rochat (1833–1910)

Wie es einige Jahre später zu der Freundschaft mit Alfred Rochat kam, ist leider nicht bekannt. Rochat erinnerte sich 1899 in einem Brief an Meyers Biografen Adolf Frey:

Während jener Zeit machten wir allwöchentlich große Spaziergänge miteinander und spielten dann gewöhnlich eine Partie Schach, wenn wir ein Wirtshaus trafen wo ein Schachbrett zu finden war. Sehr häufig wanderten wir nach der romantisch gelegenen Trichterhauser [sic] Mühle. Auf solchen Spaziergängen unterhielt mich M. von seinen Zukunftsplänen; er dachte damals lediglich daran, Dramen zu schreiben, und entwickelte mir mit großem Eifer die Karaktere und Situationen: Ne croyez-vous pas que ce sera beau, ne croyez-vous pas? wiederholte er. Ich war, von der fortwährenden Conversation ermüdet, oft ganz zerstreut und antwortete: oui, oui, ohne recht zu wissen um was es sich eig. handelte. […] Die Grundlage war stets rein geschichtlich.5

Ein gemeinsames Übersetzungsprojekt der beiden scheiterte an Schwierigkeiten mit dem Verlag, und Meyer begann sich zunehmend auf sein dichterisches Schaffen zu konzentrieren, wobei ihn Rochat unterstützte und beriet:

Wann er seine ersten Balladen schrieb, weiß seine Schwester besser als ich. Damals kam er regelmäßig zu uns und las sie uns vor. Was mich als eine Seltenheit (obwohl allerdings keine Seltenheit bei wirklichem Talent) frappirte, war daß er alle meine Kritiken sofort annahm, sobald ich auf dieselben beharrte und deren Richtigkeit ihm zu beweisen suchte. Gut! sagte er, ich werde das ändern. Tags darauf war eine neue Strophe erfunden und der Gedanke anders gestaltet.6

Dass Meyers erstes Buch, die 1864 anonym erschienenen Zwanzig Balladen von einem Schweizer, überhaupt das Licht der Öffentlichkeit erblickte, war nicht zuletzt Rochat zu verdanken, wie der Dichter 1878 in einem Brief an den Philosophen Friedrich Theodor Vischer (1807–1887) anmerkte:

Freilich bin ich derselbe, der vor mehr als einem Jahrzehnt Ihnen meine Erstlinge, noch sehr plumpe Tastungen, zusendete. Es war mein jetzt seit Jahren in Stuttgart lebender Freund Rochat, der mir zuredete.7

Wingfield

Betsy Meyer (1831–1912)

Außer Rochat lernte Meyer Ende der 1850er Jahre noch einen weiteren „Bruder“ kennen, nämlich den am Bodensee lebenden Engländer Henry Mills Wingfield (1823–1886). Laut den nachgelassenen Aufzeichnungen von Meyers Schwester Betsy (1831–1912) war vor allem er es, der die Geschwister Meyer zur Auseinandersetzung „mit religiösen Fragen und Problemen mannigfacher Art“ anregte und ihnen „gewisse, damals viele regsamen Geister beschäftigende Ideen nahe brachte“8 – gemeint sind die Ideen der „Brüder“. Die über 40 Jahre später niedergeschriebenen Erinnerungen Betsys verraten eine bemerkenswerte Kenntnis dieser Ideen, aber auch ein sicheres Urteil über deren Grenzen:

In der Mitte des vorigen Jahrhunderts schon versuchte es eine Schar erlesener Geister in England und anderwärts sich zu sammeln aus allen christlichen Kirchen, deren Versteinerung und Unzulänglichkeit sie erkannte, zu einer freien Gemeinde christlicher „Brüder“. Sie wollten keine neue Kirche gründen, nur ohne Kirchengesetz und geistliches Amt sich unter dem Banner des reinen Bibelwortes verständigen, sich vereinigen, um eine Gemeinde der „Wartenden“ zu bilden. In England war es Darby, der weite Gesellschaftskreise für diese von ihm vertretene Idee begeisterte. In Genf war es ein feiner Geist, eine edle Persönlichkeit der Laienwelt, die in heiligem Eifer für sie Propaganda machte [= Eynard]. Und gerade dieser vornehme Genfer war es, mit dem der Baron Ricasoli auf religiösem Gebiet innerlich am nächsten verwandt sich fühlte.

Auch unser von Conrad im Engelbergertal gefundener englischer Freund [= Wingfield] gehörte, sagte er uns, als er in der Blüte seiner religiösen Begeisterung stand, prinzipiell keiner andern Gemeinde zu, als dieser im Gedanken ihrer Stifter von aller äußern Form befreiten Brüdergemeinde. In Zürich war es Conrads Freund Dr. phil. A. Rochat, der Sohn eines bekannten Waadtländergeistlichen und einer englischen Mutter, der schon durch seine Erziehung und durch die in Vevey und Montreux hochgeachtete Familie seiner Frau derselben Richtung angehörte.

Einfache brüderliche Einigung und das Festhalten an reiner Lehre und weiten Horizonten war das ursprüngliche Prinzip dieses Bundes. Wie aber bildete es sich in der Praxis aus! –

Die erstrebte Freiheit von den Kirchenordnungen führte zum unseligsten Individualismus in Lehre und Lebensanschauung, zu beständigen Differenzen unter den Brüdern, die sich gegenseitig in Bann erklärten, zu immer neuen Trennungen in immer kleiner und kleinlicher werdende einflußlose Sekten. – Statt zu weiten Verbrüderungen – zu schroffster ausschließlicher Engherzigkeit.9

Die im letzten Absatz beschriebene Entwicklung dürfte um 1860 noch kaum erkennbar gewesen sein; möglicherweise liegt diesen nach 1901 formulierten Gedanken weniger eigenes Erleben und Erfahren zugrunde als die Lektüre kritischer Literatur – es ist durchaus vorstellbar, dass Betsy etwa William Blair Neatbys History of the Plymouth Brethren (1901) kannte. Wenn um 1860 das Interesse ihres Bruders Conrad Ferdinand an den Ideen der „Brüder“ nicht von Dauer war, hatte dies jedenfalls andere Ursachen:

Er erkannte, was der englische Freund erlebte, als historisch festgestellte Begleiterscheinungen des Urchristentums, als Spiegelungen, Nebensonnen, die schon vor vielen Jahrhunderten in der Kirche aufgetaucht und von ihr als Irrlehre überwunden worden waren.10

Briefe

Monogramm Rochats

Der Freundschaft mit Rochat tat dies freilich keinen Abbruch; Meyer sandte ihm regelmäßig seine Neuerscheinungen zu, und sie blieben auch nach Rochats Umzug nach Stuttgart (1875) in Briefkontakt. 14 Briefe Rochats – durchweg in französischer Sprache – haben sich in Meyers Nachlass in der Zentralbibliothek Zürich erhalten. Ich hatte dieses Jahr Gelegenheit, mir Digitalisate davon zukommen zu lassen, die ich anschließend ausgewertet und vor zwei Wochen im Arbeitskreis „Geschichte der Brüderbewegung“ in Wiedenest vorgestellt habe. Das 72-seitige Skript, in dem ich auch alles mir bisher Bekannte über Rochat und über Meyers Kontakte mit den „Brüdern“ dokumentiert habe, ist seit heute online zugänglich.

Brüdergeschichtlich interessant ist vor allem der Brief vom 21. August 1882, mit sieben Seiten der längste im ganzen Bestand, da Rochat hier u.a. ausführlich von seiner Arbeit am Elberfelder Alten Testament berichtet sowie Neuigkeiten über die Familien Graffenried und Rossier erzählt, die Meyer somit ebenfalls ein Begriff gewesen sein müssen (Rochats Frau Rosalie war eine Schwester von Henri Rossier). Sogar die mit Meyer befreundete Heidi-Autorin Johanna Spyri (1827–1901) muss die Rossiers gekannt haben, denn Meyer teilte ihr 1885 mit:

Ernst Naville war hier und erzählte mir das Ende Eugenie Roßier’s, die, wie Sie gleichfalls wißen werden, als eine Madame Berthoud heimgegangen ist –11

Eugénie Rossier, eine Schwägerin Rochats, hatte am 27. März 1885 im Alter von 53 Jahren den 62-jährigen Maler Léon Berthoud geheiratet und war exakt zwei Wochen später verstorben. Johanna Spyri reagierte auf diese Nachricht folgendermaßen:

Daß unsere liebe Eugénie, die ernste Darbistin, mit solchem Roman schließen würde, hatte ich nicht erwartet.12

Schluss

Conrad Ferdinand Meyers Glaube war im Laufe seines Lebens Schwankungen unterworfen. Im Jahrzehnt von 1875 bis 1885 durchlebte er eine eher skeptische Phase13 – und ausgerechnet aus dieser Zeit stammt der allergrößte Teil der erhaltenen Briefe Rochats an ihn (Meyers Antwortbriefe scheinen verlorengegangen zu sein). Trotzdem (oder gerade deswegen?) werden Fragen des persönlichen Glaubens in den Briefen nie berührt; auch wenn Rochat z.B. von der Bibelrevision spricht, liegt sein Fokus ganz auf dem philologischen Aspekt. Ein einziger dezenter Hinweis findet sich nur im letzten Dokument, einer an Meyers Witwe Louise (1837–1915) gerichteten Beileidskarte. Sie endet mit den Worten:

Ich sage ihm mit Zuversicht: Auf Wiedersehen!


200. Geburtstag von Peter Nippel

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Peter Nippel 1855

Peter Nippel gehört zu den Personen der Brüdergeschichte, die lange Zeit nicht viel mehr waren als ein Name: Man wusste, dass er um 1849 als Hauslehrer einer Schweizer Familie von Graffenried in Tübingen die zweitälteste deutsche Brüdergemeinde gegründet hatte, aber von seinem Leben davor und danach war kaum etwas bekannt.

Angesichts dieser Lücken hatte ich schon vor etlichen Jahren begonnen, weitere Recherchen über Nippel anzustellen. Im Sommer 2022 habe ich diese intensiviert und die Ergebnisse in der Herbstsitzung des Wiedenester Arbeitskreises „Geschichte der Brüderbewegung“ vorgestellt. Zum heutigen 200. Geburtstag Peter Nippels mache ich mein 50-seitiges Vortragsskript online zugänglich.

Hier einige ausgewählte neue Erkenntnisse:

  • Nippel studierte nicht nur in Halle, wie bisher angenommen, sondern auch in Tübingen und Zürich, und zwar drei verschiedene Fächer (nacheinander).
  • In den 1850er und 1860er Jahren pendelte er zwischen der Schweiz und England, bevor er sich 1866 endgültig in Neuchâtel niederließ.
  • 1855 korrigierte er auf Bitten John Nelson Darbys die Druckfahnen der Erstausgabe des Elberfelder Neuen Testaments.
  • Im selben Jahr heiratete er in Plymouth die Tochter des aus der Newton-Kontroverse bekannten Bruders James Ebenezer Batten (1803–1885). Einer der Trauzeugen war Darby persönlich.
  • Seinen Lebensunterhalt verdiente Nippel lange Zeit als Leiter eines Pensionats (kleines Privatinternat). Von 1886 bis 1907 war er Professor für englische Sprache und Literatur an der Académie de Neuchâtel (Vorläufer der heutigen Universität).
  • Im Alter scheint er sich von der Brüderbewegung abgewandt zu haben.

Ein 8-seitiges illustriertes Kondensat meines Vortrags erscheint auch in Heft 4/2024 von Zeit & Schrift; die digitale Version ist bereits verfügbar, mit dem Versand der gedruckten Ausgabe ist nächste Woche zu rechnen.

150. Todestag von Sir Alexander Campbell

Sir Alexander Campbell gehört zu jenen „Brüdern“ der ersten Generation, deren Name in jeder Geschichte der Brüderbewegung vorkommt, über deren Leben aber darüber hinaus nicht sehr viel bekannt ist. Ouweneel beispielsweise erwähnt ihn in Het Verhaal van de “Broeders” siebenmal, meist jedoch nur in Verbindung mit anderen Personen. So gehörte Campbell zu den Besuchern der Powerscourt-Konferenz von 183314 und zu den frühen „Brüdern“ in Plymouth, von wo er aber bereits Ende der 1830er Jahre wegzog.15 Nach Darbys Trennung von Newton im Oktober 1845 war Campbell einer der Brüder, die nach Plymouth kamen, „um den Zustand zu untersuchen“, wobei er deutlich mit Darbys Seite sympathisierte.16 Bei der Informationsveranstaltung in der Londoner Rawstorne Street im Februar 1847 schließlich legten er und etliche andere Brüder „klare und ernste Zeugnisse” gegen Newton ab.17

Jugend

Wer war Sir Alexander Campbell? Die bisher einzige nennenswerte Veröffentlichung über ihn ist ein kurzer Artikel von Timothy C. F. Stunt in der Brethren Historical Review 12 (2016),18 der wesentliche Eckpunkte seines Lebens benennt, aber ebenfalls noch manche Fragen offenlassen muss. Da er (im Gegensatz zu vielen anderen BHR-Artikeln) nicht online verfügbar ist, fasse ich ihn hier zusammen und ergänze ihn um einige neuere Erkenntnisse.

Campbell wurde am 22. Oktober19 1804 als Alexander Thomas Cockburn20 in Madras (Indien) geboren, wo sein Großvater mütterlicherseits, der Schotte Alexander Campbell (1760–1824), in der britischen Militärverwaltung tätig war. Mit knapp drei Jahren wurde er von seinem Großvater nach England gebracht, doch bereits im folgenden Jahr verlor er beide Eltern (die Mutter durch einen Schiffsuntergang), sodass er bei seinem Onkel Thomas Cockburn in Devon oder Cornwall aufwuchs. Sein Großvater verfolgte unterdessen seine Karriere weiter, wurde 1815 in den niederen Adelsstand erhoben (Baronet) und brachte es 1820 bis zum Oberbefehlshaber der Madras Army. Als er am 11. Dezember 1824 ohne überlebenden Sohn starb, ging der Adelstitel durch eine (bereits 1821 getroffene) Ausnahmeregelung auf seinen 20-jährigen Enkel Alexander Thomas Cockburn über, der sich fortan Sir Alexander Thomas Cockburn-Campbell, 2nd Baronet nennen durfte.

Bei den „Brüdern“

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Schwiegervater Sir John Malcolm (1769–1833)

Über Campbells nächstes Lebensjahrzehnt ist fast nichts bekannt, außer dass er 1827 seine Cousine Margaret Malcolm heiratete und das folgende Jahr mit ihr in Indien zubrachte (als Adjutant seines Schwiegervaters Sir John Malcolm). Die Rückkehr nach England erfolgte offenbar wegen Margarets Gesundheit. Spätestens 1836 lebten sie in Plymouth, denn im Januar dieses Jahres wurde dort ihre zweite Tochter Olympia geboren (die erste, Charlotte Isabella, war 1834 im Londoner Vorort Teddington zur Welt gekommen21). Der Übertritt zu den „Brüdern“ muss sich bereits einige Jahre früher ereignet haben, da James Butler Stoney Campbells Anwesenheit auf der Powerscourt-Konferenz von 1833 bezeugt.22 Als der Schweizer Pastor Carl von Rodt 1836 die Gemeinde in Plymouth besuchte, logierte er bei Campbell und berichtete:

Unter den begabtesten Brüdern bemerkt man den Capitän Hill23 und den Baron [sic] Campbell, von welchem letztern ich gastfreundlich aufgenommen worden bin; sein Haus ist ein Muster eines christlichen Hauses, und seine Einfachheit ist um so bemerkenswerther, da die Engländer im Allgemeinen die Pracht lieben. Sein Haus wird, obgleich es gut bedient und geräumig ist, doch selbst dem ängstlichen Gewissen nicht Anstoß geben. Der Hausgottesdienst breitet Frieden und herzliche Liebe unter den Hausgenossen aus.24

Campbells Frau Margaret schrieb mehrere Lieder, die später in die Liederbücher der „Brüder“ Eingang fanden, doch sie starb bereits 1841 im Alter von knapp 33 Jahren.25 Zu dieser Zeit lebte die Familie in Exeter, wo Campbell 1840 ein Versammlungsgebäude namens Providence Chapel hatte errichten lassen.

1842 heiratete Campbell erneut, und zwar die 37-jährige Grace Spence, die zuvor wahrscheinlich Gouvernante seiner Töchter gewesen war. Sie brachte in den folgenden Jahren zwei Söhne (Alexander und Thomas) und eine Tochter (Cecilia) zur Welt. In diese Zeit fielen die oben beschriebenen Auseinandersetzungen um Benjamin Wills Newton, die Campbell anscheinend recht mitnahmen, denn ein Teilnehmer der Konferenz in Bath im Mai 1848 hielt folgende Beobachtung für erwähnenswert:

During an interval between the meetings he remained in the room, with his legs resting on one of the benches, looking desolate and dejected.26

Tatsächlich muss es in den folgenden Jahren bei Campbell sogar zu einer ernsten Glaubenskrise gekommen sein. Darby schrieb am 18. Januar 1851 aus Montpellier an George Vicesimus Wigram in Le Vigan:

Campbell goes I suppose to St Hipp[*olyte?] Tuesday. You will see I suppose how he is; he reads now the bible, but it is astonishing how he is numbed. It is a miserable thing infidelity. I never saw it so near morally, but I hope there is progress.27

Demnach war Campbell also in Zweifel, wenn nicht gar in offenen „Unglauben“ (infidelity) geraten und begann soeben erst wieder in der Bibel zu lesen. Wigram ließ ihm im März 1853 Darbys Schrift The Irrationalism of Infidelity zukommen,28 in der Darby die Bibel und den christlichen Glauben gegen die Angriffe des Skeptikers Francis William Newman verteidigte – auch dies ein Hinweis auf Campbells (offenbar ähnliche) geistliche Situation.

Europa

Die Erwähnung von „St Hipp“ – die Herausgeber der Briefedition identifizieren den Ort als Saint-Hippolyte im südfranzösischen Département Gard, etwa 50 km nördlich von Darbys Aufenthaltsort Montpellier und 30 km östlich von Wigrams Aufenthaltsort Le Vigan – liefert uns den derzeit einzigen Aufschluss über Campbells Verbleib in diesen Jahren. Spätestens Ende 1847 war die Familie von Exeter nach Barnstaple gezogen, aber im britischen Census von 1851 ist sie (mit Ausnahme der beiden Töchter aus erster Ehe) unauffindbar – was sich mit einem Auslandsaufenthalt gut erklären lässt. Nach Stunt könnten dafür finanzielle Gründe ausschlaggebend gewesen sein:

Many British aristocrats and gentry, living on a fixed income from annuities, found that they could buy more with their pounds when living abroad.29

mohl
Robert von Mohl (1799–1875)

1855 finden wir die Familie (offenbar einschließlich der beiden ältesten Töchter) in Heidelberg, und hier stoßen wir nun auf das größte ungelöste Rätsel in Campbells Leben. Robert von Mohl (1799–1875), der zu dieser Zeit Juraprofessor in Heidelberg war, berichtet in seinen Lebenserinnerungen Folgendes:

Von dem fluktuierenden Teile der Heidelberger Gesellschaft ausführlich zu berichten, wäre nicht am Platze. Solche Zugvögel hatten doch zu wenigen Einfluß auf die wirklichen Verhältnisse, obgleich unter ihnen sehr nette Leute waren, schöne Frauen und Mädchen, erfahrene und weitgereiste Weltmänner. So zum Beispiel […] Sir A. Campbell, ein Schwiegersohn von Sir John Malcolm, er für seine Person ein schuftiges Subjekt, welches die Familie schließlich an dem Swan River in Australien als Polizeibeamten unterbrachte, dessen Töchter aber reizende Erscheinungen waren; […]30

„Ein schuftiges Subjekt“ – welches Fehlverhalten Campbells mag zu diesem erstaunlichen, an Geringschätzung kaum zu überbietenden Urteil Mohls geführt haben? Bisher liegen darüber keinerlei gesicherte Erkenntnisse vor. Heutige Nachkommen Campbells in Australien nehmen an, dass er nach wie vor finanzielle Probleme hatte – beging er vielleicht ein Betrugsdelikt? Die nachfolgende Karriere als „Polizeibeamter“ käme dann freilich sehr überraschend. Tatsache ist, dass Campbell 1858 ohne seine Familie nach Australien emigrierte; seine zweite Tochter, die „reizende Erscheinung“ Olympia, hatte 1857 noch den Heidelberger Kaufmann Charles Uhde (1814–1859), Besitzer des Schlösschens in Handschuhsheim, geheiratet.31

Australien

In der weit entfernten britischen Kolonie wirkte Campbell zunächst als Superintendent of Police in Perth, dann als Magistrate (Friedensrichter) in Albany.32 Nach Europa kehrte er, soweit bekannt, nur noch zweimal zurück: 1859 rekrutierte er in Irland Männer für den australischen Polizeidienst,33 und 1869/70 besuchte er die Schweiz und England. Dass er in dieser Phase seines Lebens noch (oder wieder) den „Brüdern“ angehörte, ist unwahrscheinlich; dennoch erfuhren diese von seinem Besuch, denn Darby schrieb im Dezember 1869 an Wigram:

Sir A Campbell, poor fellow, is back, thinking to take them all to Australia. I wrote to him: I have not yet heard.34

You know doubtless that poor Campbell is back, going with family to Australia.35

Warum die Familie und insbesondere seine Frau Grace ihn nicht bereits 1858 nach Australien begleitet hatte, liegt im Dunkeln; Grace zog dies wohl zeitweise in Erwägung,36 konnte sich jedoch nie dazu entschließen, auch nicht Ende 1869, als Darby die obigen Zeilen schrieb. Über die Beziehung der getrennt lebenden Eheleute kann man überhaupt nur Spekulationen anstellen. Grace blieb im Gegensatz zu ihrem Mann den „Brüdern“ treu; soweit wir wissen, lebte sie 1859–61 in der Schweiz, 1861–64 auf Guernsey, 1864–68 in England, 1868–70 erneut in der Schweiz und zum Schluss wieder in England. Campbell besuchte sie Ende 1869 in der Schweiz, reiste dann allerdings gleich weiter nach England, wohin Grace ihm erst im März 1870 folgte. Als sie am 31. Juli 1870 in Southport im Alter von knapp 65 Jahren starb, waren ihre Kinder Cecilia und Alexander und möglicherweise auch ihr Mann bei ihr.37

Auch Campbell selbst waren nur noch wenige Lebensmonate beschieden. Er kehrte wahrscheinlich im Herbst 1870 nach Australien zurück und heiratete dort im April 1871 die 32-jährige Sophia Jane Trimmer, eine ältere Schwester seiner Schwiegertochter Lucy Ann (die im Mai 1870 – also während Campbells Aufenthalt in England – seinen jüngeren Sohn Thomas geheiratet hatte). Nur drei Wochen nach dieser dritten Eheschließung, am 23. April 1871, heute vor 150 Jahren, starb Sir Alexander Campbell an seinem Wohnort Albany, 66 Jahre alt.

Nachkommen

Über Campbells älteste Tochter Charlotte Isabella habe ich nach 1851 nichts Sicheres mehr herausfinden können; da Mohl von „reizenden Erscheinungen“ im Plural spricht, fand auch sie möglicherweise einen Ehepartner auf dem europäischen Kontinent.

Die zweite Tochter Olympia wurde bereits nach zwei Jahren Ehe mit Charles Uhde Witwe und heiratete 1863 den deutschen Adligen Friedrich James Ernst Ochoncar Bruno von Poellnitz (1840–1903), mit dem sie fünf Kinder hatte.38 Sie starb am 7. September 1892 im österreichischen Bregenz.39

Alexander, der ältere Sohn aus Campbells zweiter Ehe, besuchte seinen Vater 1867/68 in Australien, ließ sich aber nicht dauerhaft dort nieder und blieb unverheiratet. Er erbte nach dem Tod seines Vaters den Adelstitel, starb jedoch selbst bereits weniger als fünf Monate später, am 6. September 1871.

Damit ging die Baronetswürde auf seinen jüngeren Bruder Thomas über, der 1864 seinem Vater nach Australien gefolgt war und den heute noch existierenden australischen Zweig der Familie begründete. Er arbeitete als Landvermesser, Farmer, Politiker und Zeitungsherausgeber und starb am 27. September 1892 in Perth. Mit der oben genannten Lucy Ann Trimmer hatte er sechs Kinder; sein ältester Sohn Alexander Thomas (1872–1935) erbte den Adelstitel, der bis heute fortgeführt wird.

Die Tochter Cecilia, die ebenfalls unverheiratet blieb, emigrierte erst nach dem Tod ihres Vaters nach Australien und wurde katholisch. Wann und wo sie starb, ist unbekannt.40


200. Geburtstag von Heinrich Thorens

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Heinrich Thorens (1817–1864)

Heinrich Thorens war einer der Männer, die einen bedeutenden Beitrag zum Entstehen der Brüderversammlungen in Deutschland gegeben haben, ohne dabei jedoch persönlich besonders hervorzutreten.

So schrieb Paul Krumme 1990 in der Zeitschrift Die Wegweisung.41 Heinrich Thorens’ Geburtstag jährt sich heute zum 200. Mal;42 aus diesem Anlass soll Krummes kurzer Artikel, der meines Wissens die einzige in sich abgeschlossene Veröffentlichung über Thorens geblieben ist, hier vollständig wiedergegeben werden.

Er wurde 1817 als Sohn eines Gastwirts im Kanton Neuchâtel (französische Schweiz)43 geboren, lernte aber schon früh, auf der höheren Stadtschule in Biel, auch die deutsche Sprache.

Um das Jahr 1830 kamen während einer Erweckungsbewegung in der Westschweiz viele Menschen zum Glauben. Zu denen, die das Heil in dem Herrn Jesus fanden, gehörte auch Heinrich Thorens.

Durch John Nelson Darby, der Anfang der vierziger Jahre in der Schweiz weilte und wirkte, wurde Thorens mit der biblischen Lehre über Heilsgewißheit, Bedeutung der Versammlung/Gemeinde des Herrn, Nachfolge usw. bekannt. Als Folge davon trat er aus der Staatskirche aus.

Thorens wurde Musterzeichner. Um sich in diesem Beruf weiterzubilden, begab er sich um 1841/42 nach Lyon, dem Zentrum der französischen Seidenindustrie. Zu dieser Zeit hielt sich auch der etwa gleichaltrige Hermann Heinrich Grafe dort auf. Die beiden jungen Männer lernten sich kennen und schlossen Freundschaft. Thorens ging zu der kleinen Brüderversammmlung in Lyon, während sich Grafe der dortigen Freien Gemeinde anschloß.

Grafe hatte in Wuppertal-Barmen zusammen mit seinem Schwager eine Textilfirma, Grafe und Neviandt. Er stellte 1846 Heinrich Thorens als Musterzeichner ein. Mit ihm hatte er für seinen Betrieb einen fähigen und fleißigen Mitarbeiter bekommen, aber weit höhere Bedeutung sollte Thorens’ Übersiedlung nach Westdeutschland auf geistlichem Gebiet haben.

Da der junge Schweizer schon durch das Gedankengut der „Brüder“ geprägt war, besuchte er die gerade im Entstehen begriffenen Brüderversammlungen in Düsseldorf und Hilden. Bald hatte er enge Verbindung mit Julius Anton von Poseck und William H. Darby (einem Bruder John Nelson Darby’s) und lernte auch die „Lehrbrüder“ (zu denen auch Carl Brockhaus zählte) des „Evangelischen Brüdervereins“ kennen, der im Juli 1850 gegründet worden war. Bei regelmäßigen Zusammenkünften in den Wohnungen Grafe’s und C. Brockhaus’ konnte Thorens die ihm klargewordenen Grundsätze des Wortes Gottes weitergeben. Wie sehr er dadurch auch Carl Brockhaus beeinflußte, geht aus einem Schriftstück hervor, das dessen ältester Sohn Ernst verfaßte und in dem es heißt, daß „besonders Bruder Thorens“ dazu beitrug, daß das Verständnis seines Vaters über die Wahrheit, das Wesen der Versammlung Christi, ihre Einheit durch den Geist Gottes, ihre Verbindung mit dem Haupt droben und ihre himmlische Stellung wuchs.44

Aufgrund seiner Gesinnung und von Demut geprägten Haltung war Heinrich Thorens allgemein geschätzt. Er nutzte jede freie Zeit, um das Evangelium von dem Herrn Jesus zu verkündigen.

Er war es gewohnt, einen bedeutenden Teil seines Einkommens für mildtätige Zwecke und für die Arbeit im Werk des Herrn zur Verfügung zu stellen. Infolge dessen stand nach seinem frühen Tod im Jahre 186445 seine Familie fast mittellos da. Jedoch kamen sowohl die Firma Grafe und Neviandt als auch die Elberfelder Brüderversammlung für ihre Bedürfnisse auf.

In Heinrich Thorens sehen wir ein deutliches Beispiel dafür, wie wunderbar die Wege des Herrn verlaufen. Ein junger Mann wird in seiner Heimat – der Schweiz – mit biblischem Gedankengut vertraut, das Brüdern in England neu geschenkt worden war. In Frankreich lernt er einen Deutschen kennen, der ihn als Mitarbeiter in seine Firma nach Westdeutschland holt, und in diesem Raum kann er sein Schriftverständnis weitergeben und dadurch wesentliche Anstöße geben zu einer „Glaubensbewegung“, die sich bald über weite Teile Deutschlands erstrecken sollte. Gott plant im voraus jeden Schritt der Gläubigen und fügt alles so zusammen, daß es zum Bau und zur Auferbauung des wunderbaren Organismus des „Leibes des Christus“ beiträgt!

Einige weitere Einzelheiten aus Thorens’ Leben erfahren wir aus der Grafe-Biografie von Walther Hermes (die zweifellos auch Krummes Hauptquelle war):

Als einst ein Heimarbeiter eine fehlerhafte Webarbeit ablieferte und damit auffiel, schob dieser die Schuld auf den Musterzeichner, den er nicht zugegen glaubte. Thorens stand auf, sich zu rechtfertigen, unterdrückte aber plötzlich seine Rede und ging wortlos an sein Pult zurück. Als ihm in jenen unruhigen Zeiten auf der Ronsdorfer Landstraße einmal ein Wegelagerer Uhr und Geld abforderte, gab er dieses sogleich her, wies dann aber den Räuber ernst und liebevoll auf die Folgen seiner Tat hin, worauf ihm dieser, der wohl erst ein Anfänger in diesem bösen Handwerk war, beschämt beides zurückgab. Seine ganze freie Zeit widmete er dem Werk des Herrn, für den er in den Kreisen der Weber mit Wort und Schrift zu werben suchte, wobei er manche Arme und Kranke besuchte, deren es damals in den Auswirkungen der Cholerazeit viele gab.46

Am Rande sei noch erwähnt, dass die bekannte Schweizer Firma Thorens, die zuerst Musikdosen und andere Musikapparate, im 20. Jahrhundert aber vor allem hochwertige Plattenspieler herstellte, 1883 von Heinrich Thorens’ in Elberfeld geborenem Sohn Hermann (1856–1943) gegründet wurde.