Verwandtschaften unter den frühen „Brüdern“

wigram
George Vicesimus Wigram

Max Weremchuk schreibt in seinem zweiten J.N. Darby Research Paper:

Early Brethren history almost reads like a “family affair”.

Ich habe mich in den letzten Wochen einmal intensiver mit den Familien einiger „Brüder“ der ersten Generation beschäftigt und die Ergebnisse in das Genealogie-Wiki WeRelate eingetragen. Hier ein paar Belege für Weremchuks Behauptung:

  • Parnells erste Frau Nancy war die Schwester von Cronin.

Auch innerhalb der nicht zur Brüderbewegung gehörenden Verwandtschaft gab es Verbindungen:

  • Parnells Schwester Emma Jane heiratete einen Cousin von Wigrams erster Frau Frances Bligh.

Um noch einmal Max Weremchuk zu zitieren:

These interconnections are amazing!! […] all these families knew each other and had contacts with each other.

Ein wenig bekanntes Bild von Dr. Cronin

Von Dr. Edward Cronin (1801–1882), einem der ersten „Brüder“ in Dublin, kennt man vor allem dieses Bild, das ihn als älteren Herrn zeigt:

cronin_alt

Weniger verbreitet ist dieses Jugendbildnis Cronins, das 1909 in einer Biografie Francis William Newmans erschien:

cronin_jung
I[sabel] Giberne Sieveking: Memoir and Letters of Francis W. Newman, London (Kegan Paul, Trench, Trübner & Co.) 1909, nach S. 40 (Großversion)
Newman gehörte ja mit Cronin und Parnell zu der Gruppe, die 1830 in Richtung Bagdad aufbrach, um Groves bei seiner Missionsarbeit zu unterstützen – ein ziemlich abenteuerliches Unternehmen, das alle drei mitgereisten Frauen das Leben kostete und wenig sichtbare Resultate hervorbrachte. Nachdem Newman 1833 nach England zurückgekehrt war, wandte er sich immer mehr vom biblisch-christlichen Glauben ab und wurde eine Art rationalistischer Theist. Gegen sein Buch Phases of Faith (1850) schrieb Darby The Irrationalism of Infidelity.

Die Ehefrauen Cronins und Newmans waren übrigens Schwestern – Newman heiratete 1835 Maria Kennaway (1801–1876), Cronin 1838 ihre Schwester Frances Kennaway (1806–1882). Man fragt sich, wie wohl in der Verwandtschaft mit Newmans religiöser Entwicklung umgegangen wurde! Newmans Frau Maria soll bis zu ihrem Tod den „Brüdern“ angehört haben (so Timothy C. F. Stunt im Oxford Dictionary of National Biography).

Schaubilder zur Geschichte der Brüderbewegung

In dem Buch Was uns die Bibel lehrt (CV Dillenburg 2001) ist auf Seite 75 ein Schaubild zur Geschichte der deutschen Brüderbewegung abgedruckt, das ich etwas erweitert und modifiziert habe (zum Vergrößern anklicken):

bruedergeschichte_deutschland

Gegenüber der Vorlage habe ich u.a. die Raven-Brüder hinzugefügt (auch wenn sie heute zahlenmäßig unbedeutend sein mögen), außerdem die Glanton-Brüder (deren deutsche Geschichte noch weitgehend im Dunkeln liegt), die Abwanderung aus dem BEFG nach der Wende in der DDR sowie die „blockfreien“ Neugründungen (z.B. in Süddeutschland). Die variierende Balkenbreite soll einen groben Eindruck von den Größenverhältnissen geben (das kann natürlich nur annähernd geschehen). Zwischen Brüder- und Baptistengemeinden im BEFG habe ich eine dünne weiße Linie gelassen, da von einem wirklichen Zusammenschluss bis heute ja eigentlich nicht die Rede sein kann.

Überraschend mag vielleicht der Pfeil von den Raven- zu den Offenen Brüdern 1904/05 erscheinen. Meines Wissens ist in der Brüdergeschichtsliteratur bis heute nicht ausreichend gewürdigt worden, dass etliche namhafte Offene Brüder in Deutschland von den Raven-Brüdern herkamen, so etwa Christian Schatz (1897–1900 Herausgeber der Raven-Zeitschrift Worte der Gnade und Wahrheit!), Albert von der Kammer, Ferdinand Braselmann oder Ferdinand Hilliges. Oft nahmen diese Brüder beim Übertritt „ihre“ Versammlungen mit (z.B. Albert von der Kammer in Wolgast). Noch in den 1920er Jahren druckte Christian Schatz in seiner Zeitschrift Saat und Ernte gelegentlich Texte von Stoney, Coates oder Raven ab, und auch die eigentümliche damalige Lehre der Offenen Brüder über den Tisch des Herrn (vgl. die Broschüren von Braselmann, Schatz, Schreuder und von der Kammer) ist wahrscheinlich von ihrer Raven-Herkunft beeinflusst.

Ein vergleichbares Schaubild zur angloamerikanischen Brüdergeschichte wurde in den 1980er Jahren von Grant W. Steidl erstellt. Mir liegen davon zwei Versionen vor:

brethren_history_steidl_hawke

brethren_history_steidl_jamieson

Einige wichtige Gruppen fehlen hier allerdings, so z.B. der „Needed-Truth“-Zweig der Offenen Brüder, der „Independent“-Zweig der Grant-Brüder und die verschiedenen Raven-Abspaltungen. Außerdem kann man wohl nicht von einer generellen Vereinigung der Grant- und Stuart-Brüder 1885 sprechen.

Neuerscheinung: “Witness in Many Lands”

wimlAlle zwei Jahre veranstaltet das Brethren Archivists and Historians Network (BAHN) die International Brethren History Conference. 2005 fand sie – zum bisher einzigen Mal – in Deutschland statt, und zwar an der Bibelschule Wiedenest, die damals ihren 100. Geburtstag feierte. Mit erheblicher Verspätung sind die Vorträge der Tagung nun im Druck erschienen, ergänzt um einige weitere, zuvor verstreut gedruckte Artikel. Insgesamt umfasst der von Tim Grass herausgegebene, 305-seitige Band Witness in Many Lands: Leadership and Outreach among the Brethren 19 Aufsätze, darunter auch einige zur Brüderbewegung in Deutschland. Das Inhaltsverzeichnis ist hier zugänglich; bestellen kann man den Band für £20 + Versand direkt bei BAHN.

Was ist eine Brüdergemeinde?

brotbrechenEs hat in den letzten Jahren einige Versuche gegeben, zu definieren, was das Wesen einer Brüdergemeinde ausmacht (z.B. von Gerhard Jordy, Hartwig Schnurr, Stephan Holthaus, Karl-Heinz Vanheiden, Philip Nunn). Mir persönlich scheinen dabei äußerliche bzw. organisatorische Merkmale oft zu sehr im Vordergrund zu stehen. Ist wirklich jede Gemeinde, die sich als bibeltreu versteht, keinen Pastor hat, das „allgemeine Priestertum“ praktiziert und jede Woche das Abendmahl feiert, eine Brüdergemeinde? Dann könnte z.B. auch eine Gemeinde, in der die Gültigkeit des mosaischen Gesetzes, die Verlierbarkeit des Heils und der Postmillennialismus gelehrt wird, als Brüdergemeinde durchgehen. Aber wäre das historisch und theologisch gerechtfertigt? Meiner Ansicht nach gehört zur Identität einer Brüdergemeinde unbedingt auch eine dispensationalistische Theologie (und damit meine ich nicht nur eine dispensationalistische Eschatologie, sondern auch eine dispensationalistische Soteriologie und Ethik).

Ich habe vor einiger Zeit einmal versucht, die (aus meiner Sicht) wichtigsten Merkmale von Brüdergemeinden in knappstmöglicher Form zusammenzustellen, und zwar so, dass sich sowohl „offene“ als auch „geschlossene“ Gemeinden grundsätzlich darin wiederfinden können (abgesehen vielleicht von den äußersten „linken“ und „rechten“ Flügeln).

1. Einfachheit: Brüdergemeinden orientieren sich an den schlichten Gemeindestrukturen des Neuen Testaments. Dazu gehört der Verzicht auf einen besonderen konfessionellen Namen,1 der sie von anderen Gemeinden mit anderen Namen abgrenzen würde, auf eine formelle Mitgliedschaft, auf hierarchische Organisationsstrukturen u.a.

2. Selbständigkeit und Einheit: Brüdergemeinden sind grundsätzlich selbständig,2 also keiner überregionalen, nationalen oder internationalen Kirche, Freikirche3 oder Organisation angeschlossen. Sie pflegen aber freundschaftlichen Kontakt und Austausch mit ähnlich ausgerichteten Gemeinden an anderen Orten und fühlen sich mit allen wiedergeborenen Christen verbunden.

3. Allgemeines Priestertum: Es wird nicht zwischen „Geistlichen“ und „Laien“ unterschieden, sondern jeder Gläubige darf entsprechend den Gaben, die er von Gott erhalten hat, zum Gemeindeleben beitragen.4 Für keinen der Dienste in der Gemeinde ist eine besondere Ausbildung oder formelle Anstellung erforderlich.

4. Spontaneität: Brüdergemeinden vertrauen darauf, dass der Heilige Geist ihre Zusammenkünfte leitet. Daher wird der Ablauf in der Regel nicht im Voraus geplant,5 sondern er ergibt sich aus spontanen Gebeten, Liedvorschlägen, Bibellesungen, Wort- und Predigtbeiträgen.

5. Bruderschaftliche Leitung: Eine Gruppe von Brüdern, die sich für die Gemeinde verantwortlich fühlen, übt eine gewisse Leitungsfunktion aus.6 Sie stehen jedoch nicht über der Gemeinde, sondern mitten in ihr und legen wichtige Entscheidungen der gesamten Gemeinde zur Prüfung vor.

6. Gläubigentaufe: Die Taufe wird als persönlicher Gehorsamsakt nach der Bekehrung verstanden und durch Untertauchen praktiziert. Von Gläubigen, die als Kinder in einer christlichen Kirche getauft wurden und diese Taufe als gültig anerkennen, wird in der Regel keine Wiedertaufe verlangt.7

7. Hochschätzung des Abendmahls: Das Abendmahl (Brotbrechen) spielt in Brüdergemeinden eine zentrale Rolle. Es wird nach dem Vorbild des Neuen Testaments jeden Sonntag gefeiert und von Gebeten, Liedern und Schriftlesungen zur Ehre Gottes umrahmt.

8. Offenheit für Besucher: Zu allen Zusammenkünften sind Gäste herzlich willkommen. Am Mahl des Herrn dürfen sie teilnehmen, wenn sie bekennen, dass Jesus Christus ihr Retter und Herr ist und dass sie nicht in einer moralischen oder lehrmäßigen Sünde leben, die nach dem Neuen Testament von der Gemeinschaft ausschließt.8

9. Bibeltreue:9 Die Heilige Schrift gilt als höchste Autorität für Lehre und Leben des Einzelnen und der Gemeinde. Alle Auslegungen, Meinungen und Erfahrungen müssen sich an ihrem Maßstab prüfen lassen.

10. Heilsgeschichtliche10 Bibelauslegung: Brüdergemeinden sind überzeugt, dass Gott im Laufe der Geschichte auf verschiedene Weise mit den Menschen umgegangen ist. Insbesondere werden das alttestamentliche Volk Israel und die neutestamentliche Gemeinde als unterschiedliche Personengruppen gesehen, für die unterschiedliche Aussagen der Bibel gelten.11

11. Stellung und Zustand des Gläubigen: Brüdergemeinden unterscheiden zwischen der vollkommenen, unverlierbaren Stellung des Gläubigen in Christus und seinem oft noch unvollkommenen praktischen Zustand. Das christliche Leben soll durch ständiges Wachstum in der Erkenntnis und der Nachfolge Jesu gekennzeichnet sein.12

12. Naherwartung: Brüdergemeinden erwarten die baldige Wiederkunft Jesu Christi zur Auferweckung der verstorbenen und zur Entrückung der lebenden Gläubigen.13


Die Brüderbewegung auf den Färöer-Inseln

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Titel der Buchausgabe

Auf den Färöer-Inseln ist der Anteil der „Brüder“ an der Gesamtbevölkerung weltweit am höchsten – etwa 15 %. Über ihre Geschichte hat Tórður Jóansson letztes Jahr an der Universität Glasgow eine 336-seitige Dissertation eingereicht, die online verfügbar ist: Brethren in the Faeroes. An Evangelical movement, its remarkable growth and lasting impact in a remote island community.

Neuerscheinung: “The Brethren Movement Worldwide”

bmwwKen Newton / Andrew Chan (Hrsg.):
The Brethren Movement Worldwide. Key Information 2011
3rd Edition
Lockerbie (OPAL Trust) 2011
Paperback, 230 Seiten
ISBN 978-1-907098-06-2

Dieses anlässlich der fünften International Brethren Conference on Mission erschienene Buch gibt einen stichwortartigen Überblick über die Verbreitung der („offenen“) Brüderbewegung in 96 Ländern der Erde, alphabetisch geordnet von „Albania“ bis „Zambia“. Für jedes Land werden zuerst allgemeine Daten über Bevölkerungszahl und Religionszugehörigkeit angegeben, danach Informationen über Anzahl der Brüdergemeinden und der vollzeitlichen Mitarbeiter, Gesamtmitgliederzahl, Zeitschriften, Werke, Verlage und Konferenzen. Am Ende stehen jeweils eine Reihe von Gebetsanliegen.

Bei der Zusammenstellung der Daten waren die Herausgeber auf die Mitarbeit von Kontaktpersonen in den einzelnen Ländern angewiesen. Für Deutschland (S. 78–84) werden die drei Gruppen „FB“ (= Freie Brüder), „AGB“ (= Arbeitsgemeinschaft der Brüdergemeinden im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden) und „NV“ (= „Neue Versammlungen“, Blockfreie) genannt; Gewährsleute waren Lothar Jung (FB), Reinhard Lorenz (AGB), Hans-Jochen Timmerbeil (NV) und Gerd Goldmann (Ansprechpartner für Deutschland insgesamt). Die Angaben sind im Allgemeinen zuverlässig, jedoch von sehr unterschiedlicher Vollständigkeit; so erscheint die Postanschrift der Christlichen Verlagsgesellschaft gleich dreimal, während z.B. von den Verlagen CLV und Daniel nur eine Mailadresse mitgeteilt wird. (Mehrere der angegebenen Mail- und Internetadressen sind übrigens fehlerhaft, was ihre Brauchbarkeit doch ziemlich einschränkt.)

Bemerkenswert im Abschnitt “Germany” sind einige der Gebetsanliegen. Zu danken sei u.a. für “Good contacts among the different groups of Brethren in Germany, except the Exclusive Brethren”, ebenso für “The realisation that each congregation needs a biblical eldership” (S. 84). Fürbitte sei u.a. nötig für “Freedom from quarrels and separation” (ebd.).

Das allzu vollmundige Vorwort zur 1. Auflage (2007), in dem Harold H. Rowdon die Liebe der „Brüder“ zum Herrn und zum Wort Gottes sowie ihren Evangelisationseifer als einzigartig in der Christenheit gerühmt hatte, ist seit der 2. Auflage entfallen; neu hinzugekommen sind dafür sieben nützliche Übersichtstabellen zur weltweiten Verbreitung der (offenen) Brüderbewegung, die auf Erhebungen von Peter Brierley (Brierley Consultancy) basieren.

Dankenswerterweise kann die aktuelle Auflage des Buches kostenlos als PDF heruntergeladen werden.

Erich Geldbach über Darby und den Dispensationalismus

Kürzlich ist erschienen:

Erich Geldbach: „Der Dispensationalismus“. In: Theologische Beiträge 42 (2011), S. 191–210.

Mehr als die Hälfte des Aufsatzes ist John Nelson Darby gewidmet. Die Darstellung stützt sich in weiten Teilen auf Originalzitate; allerdings werden Darby auch Auffassungen unterstellt, die erst spätere Dispensationalisten entwickelten (z.B. Scofields System der sieben Dispensationen oder die Begründung der heilsgeschichtlichen Einteilung mit 2Tim 2,15b [“rightly dividing the word of truth”]). Irreführend sind die Behauptungen, nach Darby wäre das Kreuz nicht nötig gewesen, wenn die Juden Jesus angenommen hätten, und die Bergpredigt habe „für die Nachfolge Christi keine Bedeutung“. Im Abschnitt über die Auswirkungen des Dispensationalismus kritisiert Geldbach mit Recht die falschen Prophezeiungen Hal Lindseys (Alter Planet Erde wohin?) und die fiktiven Endzeitszenarien Tim LaHayes (Finale), verschweigt aber, dass es auch seriöse dispensationalistische Theologen gibt, die keine endzeitlichen Spekulationen betreiben und keine politische Agenda verfolgen.

Artikel über Toni von Blücher

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Toni von Blücher

Ausgabe 4/2011 der Wiedenester Zeitschrift Offene Türen enthält einen Artikel von Gerd Goldmann zum 175. Geburtstag von Toni von Blücher, Mitbegründerin der Gemeinde Berlin-Hohenstaufenstraße (S. 6–8). Mit anderem Titel, leichten Kürzungen am Anfang und einer Glättung am Ende ist er auch in der Perspektive 7–8/2011 abgedruckt. Die Glättung am Ende ist bemerkenswert. In Offene Türen heißt es:

Die biblische Wahrheit von der Einheit des Leibes Christi ist eine der großen Entdeckungen, die die Brüderbewegung geprägt hat. Die exklusive Seite versuchte, durch Absonderung von den „christlichen Systemen“ (und damit leider auch von den Christen) einen „Boden“ zu schaffen, auf dem sich diese Einheit praktisch vollziehen sollte. Dieser Gedanke hat in der Geschichte keinerlei Bestätigung Gottes erfahren. Mir ist kein Ort bekannt, an dem sich die Christen auf diesem „Boden der Einheit“ zusammenfanden.

In der Perspektive dagegen:

Die biblische Wahrheit von der Einheit des Leibes Christi ist eine der großen Entdeckungen, die die Brüderbewegung geprägt hat. Der Versuch, durch Absonderung von den „christlichen Systemen“ einen „Boden“ zu schaffen, auf dem sich diese Einheit praktisch vollziehen kann, hat sich nicht bestätigt.