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100. Todestag von Emil Dönges

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Emil Dönges (1853–1923)

Heute vor 100 Jahren verstarb in Darmstadt der neben Rudolf Brockhaus vielleicht prominenteste deutsche Geschlossene Bruder der zweiten Generation: Emil Dönges. Er war bekannt als Evangelist, Lehrer, Autor, Herausgeber und Verleger und auch als Delegierter in internationalen Angelegenheiten (z.B. Tunbridge Wells 1909/10, Basel 1921). Sein relativ früher Tod im Alter von 70 Jahren fand in den Zeitschriften der „Brüder“ ungewöhnlich starken Widerhall – es erschienen mindestens drei Nachrufe:

In der zuletzt genannten Publikation folgte anlässlich seines 100. Geburtstags 1953 noch ein weiteres Lebensbild (das bis heute wohl ausführlichste), verfasst von seiner Tochter Lisa Heinz-Dönges (1897–1964). Alle vier Texte liegen auf bruederbewegung.de inzwischen in zeichengetreuen Neueditionen vor; auf ihnen basieren im Wesentlichen auch alle späteren Darstellungen, z.B. die von Arend Remmers in Gedenket eurer Führer (1983) oder die von Paul Krumme in der Wegweisung (1991).1

Weniger bekannt ist, dass auch mehrere Zeitschriften aus den „Benennungen“ (wie die Geschlossenen Brüder sich auszudrücken pflegten) über Emil Dönges’ Heimgang berichteten. Sein Name war in christlichen Kreisen durchaus geläufig, denn im Gegensatz zu Rudolf Brockhaus und den meisten anderen „führenden Brüdern“ hatte Dönges sich nicht gescheut, auch in überkonfessionellen Organisationen wie dem Bibelbund, dem CVJM oder der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung mitzuarbeiten. In diesem Punkt ähnelte er Georg von Viebahn (1840–1915), mit dem er gut befreundet gewesen war und dem er um 1919 einen warmherzigen Nachruf gewidmet hatte. Der zeitgenössische Konfessionskundler Paul Scheurlen ordnete Viebahn und Dönges daher wohl nicht ganz zu Unrecht einer „milderen Richtung“ des „Darbysmus“ zu.2

Einige Nachrufe aus Zeitschriften außerhalb der Brüderbewegung haben sich als Kopien in der Sammlung von Rudolf Kretzer (1907–1975) erhalten, die inzwischen ins Brüderarchiv Wiedenest überführt und von Hartmut Wahl vollständig inventarisiert wurde. Zu Dönges’ 100. Todestag sollen sie hier der Vergessenheit entrissen werden.

Der Gärtner

Die Zeitschrift der Freien evangelischen Gemeinden erschien wöchentlich und konnte daher noch im letzten Heft des Jahres 1923 in der Rubrik „Umschau“ eine Nachricht über Dönges’ Tod unterbringen. Was sie an biografischen Informationen über ihn zur Hand hatte, ist fast durchweg falsch (vgl. meine korrigierenden Fußnoten), aber die Bewertung seiner Person und Rolle in der Brüderbewegung dafür umso interessanter.

Am 8.3 Dezember ist in Darmstadt Dr. Emil Dönges entschlafen. Geboren in Dillenburg4 war er vor seiner Bekehrung zum Herrn5 Oberlehrer6 im höheren Schulamt. Er gab dasselbe auf und trat, wenn wir den Gang der Dinge recht beurteilen, nach Joh.7 von Posecks, des Hauptübersetzers der Elberfelder Bibel,8 unfreiwilligem Abgang an dessen Stelle im deutschen Darbysmus.9 Was Poseck trotz seiner dogmatischen Treue nicht gelang, ein erträgliches und brüderliches Verhältnis zur Wuppertaler Oberleitung zu bewahren, war Dönges viele Jahre hindurch gegeben. Im Zusammenhang mit seinem Wirken entstand das zweite Verlagshaus der sogenannten Versammlung in Dillenburg, das dann mehr die Aufgabe erhielt, volkstümliche Literatur, Kalender u.a. zu verbreiten, als deren Herausgeber der Heimgegangene weithin bekannt geworden ist. Hier erschien auch die „Gute Botschaft des Friedens“, die Dönges jahrelang herausgab. Auch über die letzten Dinge hat er oft und viel geschrieben, allerdings, wie ja nicht anders zu erwarten, nur in Anlehnnung [sic] an J. N. Darbys geprägte, dort allein maßgebliche Schriftauslegung. Dennoch war er nicht wie so mancher andere ein starrer Kirchenmann seiner Benennung, sondern ein Mann der Liebe und des Friedens und einer dort seltenen Weitherzigkeit, in erster Linie Bruder und Jünger Jesu, der auch Andersdenkende und Andersempfindende gelten ließ und der sich hier und da schon mal erlauben konnte, eigene Wege zu gehen.10

Eine sprachlich (nicht inhaltlich) minimal korrigierte Version dieser Mitteilung erschien Anfang 1924 auch in der Zeitschrift Auf der Warte: Ein Blatt zur Förderung und Pflege der Reichgottesarbeit in allen Landen, die der Gemeinschaftsbewegung nahestand und zu dieser Zeit von Karl Möbius (1878–1962) in Neumünster/Holstein herausgegeben wurde.11

C. V. J. M. Darmstadt

Unter diesem unscheinbaren Titel gab die Darmstädter Ortsgruppe des Christlichen Vereins Junger Männer ein Faltblatt heraus, das offenbar zugleich als Einladungsflyer, Mitteilungsblatt und Veranstaltungskalender diente. In der Ausgabe mit den Terminen für Januar 1924 (auf der Rückseite; die Titelseite ist undatiert) findet sich unter der Rubrik „Freude und Leid im Vereinsleben“ folgende Notiz:

Tiefes Leid hat uns der Heimgang eines lieben Freundes unserer Sache gebracht. Am 7. Dezember ist Herr Dr. Dönges plötzlich von seinem Meister, dem er seit seinem 18. Jahre in Treue und Liebe diente, im 70.12 Lebensjahre heimgerufen worden zu dem, den er im heiligen Ernste verkündete. Allmonatlich hat uns dieser treue Knecht seines Meisters mit dem reichen Schatz seiner Erfahrung in die Schrift eingeführt. Er hat es besonders verstanden, jedem der Teilnehmer etwas zu geben. Der reiche Segen, den er unter uns ausgestreut, wird sicher gesegnete Frucht bringen.13

Evangelisches Allianzblatt

Die Zeitschrift der „Blankenburger Allianz“ (die eher landeskirchenkritisch eingestellt war) brachte im ersten Heft des Jahres 1924 eine von Otto Dreibholz verfasste Todesanzeige:

Im Alter von 7114 Jahren entschlief in Darmstadt der, in der Gemeinde des Herrn, weit bekannte

Dr. Emil Dönges.

Der Bruder war ein Zeuge Jesu durch Wort und Schrift und die Ewigkeit wird es klar machen, wie vielen Irrenden er den Weg zu Jesu gewiesen hat und wie vielen Kindern Gottes er im Segen gedient hat.

Als Gott den Moses wegnahm, da hatte Er den Josua zubereitet und als Elias gen Himmel gefahren war, da teilte sich das Wasser vor Elisa. Wir wollen auch in diesem Falle das Vertrauen zum Herrn haben, daß Er die Lücke in der rechten Weise ausfüllt.

O. D.15

Unser Dienst

Ein Vorläufer der heutigen SMD war die Deutsche Christliche Studentenvereinigung. Da sie erst 1895 gegründet wurde, kann Dönges ihr als Student nicht angehört haben, aber er stand ihr offenbar mit viel Sympathie gegenüber und nahm sowohl in Frankfurt als auch in Darmstadt regelmäßig an Veranstaltungen ihres „Altfreunde-Verbandes“ teil. Dessen Zeitschrift Unser Dienst, herausgegeben von Pastor Arno Spranger (1884–1972), würdigte ihn im Juni 1924 in einem knapp dreiseitigen, stellenweise beinahe hymnischen Nachruf:

Zum Gedächtnis.

Am 7. Dezember 1923 entschlief sanft im Herrn unser lieber, treuer Altfreund Dr. Emil Dönges. Man hat gesagt, ein Oberster, ein Großer, sei mit dem Entschlafenen abgeschieden, ein Wort, dem alle diejenigen, insonderheit alle diejenigen Altfreunde, aus vollem Herzen zustimmen werden, denen es vergönnt war, dem teuren Entschlafenen nähertreten zu dürfen. Mit Dr. Dönges ist einer unserer treuesten Altfreunde, der regen Verkehr mit den Kreisen Darmstadt und Frankfurt unterhielt, aus dem Leben geschieden, ein Großer, ja, der Größten einer unserer Führer auf dem Weg zur ewigen Heimat, ein Mann, dessen Herz ungeteilt auf seinen Herrn gerichtet war, der sein ganzes Leben, seine hohen geistigen Fähigkeiten, seine ganze Kraft in den Dienst seines Herrn gestellt, dem es wie wenigen vergönnt war, jahrzehntelang, sowohl im Wort wie durch seine nimmermüde Feder, jung und alt, hoch und niedrig auf seinen göttlichen Meister, seinen wunderbaren Herrn und Heiland hinweisen zu dürfen. Welch ein reicher Segen von seinem Worte ausging, das weiß der Herr allein, das wird die Ewigkeit erweisen; wir, die Zurückgebliebenen, können es nur ahnen, durften wir doch oftmals zu seinen Füßen sitzen und im Geiste teilnehmen an der himmlischen Freude, die sein Herz in so reichem Maße empfand, an jener Liebe zugleich, die aus Gott geboren, sein ganzes Wesen erfüllte, die rückhaltlos auf alle diejenigen ausstrahlte, die zu ihm kamen, jener wahren Liebe, die als etwas Ursprüngliches, Urmächtiges, als lebendiger Gottesquell seiner begnadeten Seele entströmte. Ihr müssen wir es danken, daß er nie müde wurde, immer und immer wieder, auch in den Kreisen der Altfreunde, die dringende Notwendigkeit zu betonen, in der Liebe des Herrn und an seinem heiligen, unvergänglichen Worte zu bleiben.

Als ein kleines Zeichen der Dankbarkeit möge ein kurzes Lebensbild des Heimgegangenen folgen.

Das nun folgende Lebensbild ist im Wesentlichen eine Zusammenfassung des erwähnten Artikels von Rudolf Brockhaus aus der Tenne, sodass auf eine vollständige Wiedergabe hier verzichtet werden kann. Gegen Ende wird die Darstellung wieder eigenständiger:

Am 2. September 1923 durfte er im Kreise seiner Lieben: seiner treuen Gattin, seiner Kinder und einem Enkel unter reichsten Glückwünschen von nah und fern seinen 70. Geburtstag festlich begehen.

Anfang Dezember 1923 stellte sich eine Verschlimmerung seines alten Herzleidens ein, die am 7. Dezember diesem teuren, gottbegnadeten Leben ein Ende bereitete.

War es „Zufall“, daß er auf den Tag seines Heimgangs für den 7. Dezember auf seinem Abreißkalender eine Betrachtung geschrieben über das Wort 1. Kor. 15, 49: „Wie wir das Bild dessen von Staub getragen haben, so werden wir auch das Bild des Himmlischen tragen“? Er schrieb: „… unser heutiges Wort gibt uns neu die bestimmte kostbare Zusage: „Wir werden das Bild des Himmlischen tragen.“ Welch herrliche Hoffnung!“

Noch 14 Tage vor seinem Heimgang besuchte er einen Altfreundeabend, auf dem Dr. phil. Krämer über 1. Kor. 15 sprach anläßlich des bevorstehenden Totensonntags. In der Aussprache betonte der Entschlafene kräftig die Gewißheit der ewigen Seligkeit der Kinder Gottes und verlas zum Schluß die beiden ersten Verse des Liedes: „Jesus, meine Zuversicht“:

„Jesus, er, mein Heiland, lebt,
Ich werd’ auch das Leben schauen,
Sein, wo mein Erlöser schwebt,
Warum sollte mir denn grauen?
Lässet auch ein Haupt sein Glied,
Welches es nicht nach sich zieht?“

Vom Posaunenchor des C. V. J. M. Darmstadt, in dessen Mitte er oft und gern geweilt hatte, mit den Klängen dieses Liedes geleitet, wurde am 11. Dezember 1923 unter überaus zahlreicher Beteiligung aus allen Gauen Deutschlands seine sterbliche Hülle zu Grabe getragen.

Nun ist die einst nimmermüde Feder seiner Hand entfallen, die Lippen, die einst in der Kraft des Herrn in heiliger Freude die unendliche Liebe und Gnade gepriesen, sind für immer verstummt. Der Diener ist eingegangen zu seinem hochgelobten Herrn, sein Wunsch ist erfüllt: Ihn schauen zu dürfen, wie er ist. Er ist als der gute und getreue Knecht eingegangen in die Herrlichkeit seines Herrn.

Auch uns, den hinterbliebenen Altfreunden, hat sein Scheiden eine große Lücke hinterlassen, die nur der Herr zu schließen vermag. Doch nicht klagen geziemt uns. Vielmehr wollen wir nach oben schauen in heißer Dankbarkeit dafür, daß der Herr einen solch Großen ausgesandt, damit sein Werk ausgebreitet und in den Seelen vertieft werde. Wir wollen nicht ermatten in der Bitte, daß der Herr der Ernte uns fähig mache, ihm nachzufolgen in gleicher Liebe und Treue, wie unser entschlafener Altfreund es getan, zu unseres wunderbaren Herrn Lob und Ehr’ und Dank und Preis. Sein Name sei gepriesen in alle Ewigkeit! Amen.

Fr. R.16

Nach dem Gesetz und Zeugnis

Seit den 1910er Jahren war Dönges Mitglied des Bibelbundes gewesen,17 deren Zeitschrift Nach dem Gesetz und Zeugnis auch mindestens einen Artikel von ihm abgedruckt hatte (über die Inspiration der Bibel18). Im ersten Quartal 1925 erinnerte auch diese Zeitschrift an den Verstorbenen, indem sie den – eigentlich eher „Brüder“-internen – Nachruf, der 1925 im Botschafter des Friedens erschienen war, praktisch unverändert nachdruckte (nur ohne den ersten Absatz).19 Herausgeber der Zeitschrift war zu dieser Zeit Heinrich Cornelius (1864–1942), Pfarrer in Lütjenburg.

Der Münsterländer

Beim letzten hier mitgeteilten Lebensbild aus der Sammlung Kretzer handelt es sich nicht mehr um einen Nachruf, sondern um einen biografischen Zeitungsartikel, der wahrscheinlich 1958 im Münsterländer, einer heimatkundlichen Beilage zu den Westfälischen Nachrichten, erschien. Anlass dafür war Dönges’ (relativ kurze) Tätigkeit als Lehrer am Gymnasium Burgsteinfurt, die dem Verfasser Dr. Rudolf Rübel (1887–1963) offenbar bedeutend genug erschien, um ihn in die 91-teilige Artikelserie „Verdiente Burgsteinfurter“ aufzunehmen. Als Quellen verwendete er das Lebensbild im Botschafter des Friedens 1953 sowie „Familiennachrichten“.20 Der Artikel enthält neben einigen eher zweifelhaften Aussagen auch Informationen, die meines Wissens sonst nirgendwo überliefert sind (z.B. den genauen Ort von Dönges’ Englandaufenthalt).

Verdiente Burgsteinfurter

Dr. Emil Dönges
2. September 1853 – 7. Dezember 1923

Emil Dönges wurde in Becheln (bei Bad Ems) als zweitältester Sohn des Lehrers Philipp Dönges und seiner Gattin Josefine21 geb. Knab geboren. Sein Vater war ein ernster, gottesfürchtiger Mann, der der Erweckungsbewegung angehörte und in seinem Hause christliche Versammlungen abhielt. Nach dem Besuch der Realschule in Bad Ems kam der Junge auf das Realgymnasium nach Elberfeld. Dort wohnte er in einer christlichen Familie und trat in Verbindung mit entschiedenen Gläubigen. Nach dem Abitur (14. Juli 1874) ging er nach Marburg, wo er neuere Sprachen studierte. Zwischendurch war er 18 Monate in England, in Stoke Prior in einem Pfarrhause. Dort lernte er John Darby (1800–1882) kennen, den Begründer der Sekte der Darbisten. Am 23. Mai 1879 legte er in Marburg die Lehramtsprüfung für französisch und englisch ab. Nach einem Studienaufenthalt in Paris promovierte er am 5. August 1879 über das altfranzösische Rolandslied. Am 1. Oktober 1879 wurde er als Probekandidat und Hülfslehrer (= Studienassessor) an das Gymnasium nach Burgsteinfurt versetzt.

Als Angehöriger einer kirchenfreien Gemeinschaft weigerte er sich, mit den Gymnasiasten den Gottesdienst in der Kirche zu besuchen, wie es damals (bis 1918) Brauch am Gymnasium war. Er gründete hier eine freikirchliche Gemeinschaft, ähnlich wie die Darbisten und die Plymouthbrüder, die jede kirchliche Organisation und alle geistlichen Aemter ablehnen. Auch nach dem Weggang von Dr. Dönges blieb die von ihm gegründete Gemeinschaft weiter bestehen.

Als Dr. Dönges Ostern 1882 Burgsteinfurt verließ, entschloß er sich, den Lehrerberuf aufzugeben. Zunächst (von 1884–86) arbeitete er im Verlag Brockhaus in Elberfeld. Er übersetzte das Werk von Andrew Miller (einem Angehörigen der Plymouthbrüder): Short Papers on Church history (= Kurzgefaßte Kirchengeschichte) 1874–79, und arbeitete mit bei der Uebersetzung der sog. „Elberfelder Bibel“, die von seinen Anhängern seitdem benutzt wird. Diese Uebersetzung entstand aus dem Wunsch, „dem einfachen und nicht gelehrten Leser eine möglichst genaue Uebersetzung in die Hand zu geben“. Ueber Luther hinausgehend wurden auch neuere Uebersetzungen, auch holländische und englische, benutzt.

1886 zog er nach Frankfurt, wo er seine Lebensgefährtin fand, Katharina Kirch, die ihm neun Kinder geschenkt hat. Seine Erstlingsarbeit war die Evangeliums-Zeitschrift: „Gute Botschaft des Friedens“, erschienen zuerst 1888, die rasche Verbreitung fand. Auch für Kinder gab er eine Zeitschrift heraus, sowie mehrere Familienkalender, die auch in der Schweiz und in Amerika Verbreitung fanden. März 1899 siedelte er nach Darmstadt über. Sehr redegewandt, verstand er anschaulich zu erzählen. Sehr weitherzig ließ er auch Andersdenkende gelten. Neben den regelmäßigen Zeitschriften schrieb er auch viele Erzählungen und Traktate. Trotz seiner ausgedehnten Tätigkeit leitete er auch die Anstalt für Schwachsinnige in Aue (bei Schmalkalden). Bis wenige Tage vor seinem Tode war er unermüdlich tätig. Seine Kinder setzen seine Arbeit erfolgreich fort.22


Eine wenig bekannte Artikelserie von „Titus Blicker“

In seiner Broschüre Die Zerrissenheit des Gottesvolkes in der Gegenwart, einem Beitrag zum „Schriftenstreit“ zwischen den Freien evangelischen Gemeinden und den Geschlossenen Brüdern, schrieb der FeG-Prediger Gustav Nagel (1868–1944):

„Ich kenne,“ hat ein Kenner der „Versammlung“ gesagt, „eine gleichartige sicher funktionierende Organisation nur noch im deutschen Heere und im Jesuitenorden.“1

blicker40Wer dieser „Kenner der ‚Versammlung‘“ war, ist uns nicht überliefert; immerhin konnte jetzt aber die Quelle identifiziert werden, der Nagel dieses Zitat entnommen hatte. Es handelt sich um die vierteilige Artikelserie „Ist der Darbysmus, was er vorgibt zu sein?“ eines gewissen Titus Blicker, erschienen 1912 in der Zeitschrift Auf der Warte. Ein Blatt zur Förderung und Pflege der Reichgottesarbeit in allen Ländern. Gleich im ersten Teil schreibt Blicker:

Keine der lutherischen, auch keine der reformierten, der methodistischen, baptistischen oder irgend eine der unabhängigen Kirchen, ja selbst nicht einmal die römische kann so rasch und sicher ein Glied, einen Lehrenden exkommunizieren und für sie schadlos machen, wie der alte Darbysmus in seinen Bündnissen deutscher, englischer, französischer und anderer Zungen. Jeder Bund hat eine so fest gegliederte Organisation, daß ein Knecht Gottes, der sie von England und anderwärts her kennt, zum Schreiber sagte: Ich kenne eine gleichartige sicher funktionierende Organisation nur noch im deutschen Heere und im Jesuitenorden.2

Auch ein zweites Zitat Nagels – nur wenige Zeilen nach dem oben angeführten – stammt aus dem Artikel von Blicker:

Es ist keine Übertreibung, wenn jemand bei einer Erörterung dieser Fragen sagt: „Gewiß hat keine gläubige Gemeinschaft stärker das hierarchische System verneint und in allen diesbezüglichen Schriften bekämpft, als die darbystischen Gruppen, und gerade sie haben dieses System.“3

Im Original heißt es:

Gewiß hat keine evangelische Kirche, keine gläubige Gemeinschaft stärker das hierarchische System verneint und in allen seinen diesbezüglichen Schriften bekämpft, als die vielen darbystischen Gruppen, und gerade sie haben dieses System.4

Blickers Hauptthema, wie es sich in diesen Zitaten und auch bereits im Titel ausdrückt, ist die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der „Versammlung“: Während sie sich immerfort auf das Wort Gottes und die Leitung durch den Heiligen Geist berufe, folge sie in Wirklichkeit doch nur den Festlegungen Darbys:

Darbys Form und Art ward Sitte; die Sitte ward Gewohnheit; die Gewohnheit ward Natur; die Natur erzwang die Notwendigkeit, die unevangelische, unpaulinische Gesetzlichkeit!5

Diese kleinliche Nachahmung in so vielen ernsten Fragen steht Betern und ernsten Bibelchristen schlecht an, sonderlich aber solchen, die in allen Schriften in allen erdenklichen Tonarten behaupten, sie und sie allein richteten alles ein nach dem Worte Gottes, und bei ihnen stände alles unter der Leitung des Heiligen Geistes.6

Der Autor

Wer war Titus Blicker? Eine Google-Suche erbringt (wenn man von den Telefonnummern einiger nordamerikanischer Namensvettern absieht) nur einen einzigen Treffer: Bernhard Kochs Als Manuskript gedruckten Brief an den Verfasser der Schrift „Die Zerrissenheit des Gottesvolkes in der Gegenwart“ – ein weiterer Beitrag zum „Schriftenstreit“, den wir 2007 auf bruederbewegung.de veröffentlicht haben. Koch schreibt:

Interessant war mir übrigens die Bemerkung des Rezensenten vom „Wahrheitszeugen“, daß „Titus Blicker“ mit den Brüdern unangenehme Erfahrungen gemacht haben soll. Ob es dieser denn gar nicht weiß, welche Erfahrungen die Brüder mit dessen Pseudonymus gemacht haben? – Und nicht nur diese, sondern auch die Baptistengemeinde selbst, dessen Organ doch der „Wahrheitszeuge“ ist. Aber auch selbst diejenigen Brüder, mit denen M. Spr. – denn um diesen handelt es sich doch – noch später in Verbindung war, können ebenfalls nicht von angenehmen Erfahrungen sprechen. Dieser Mann hätte wirklich am allerwenigsten Ursache, gegen andere zu schreiben.7

„Titus Blicker“ war also offenbar ein Pseudonym von „M. Spr.“ Dahinter verbirgt sich mit großer Wahrscheinlichkeit Max Springer, dessen Name mit zwei weiteren „brüderkritischen“ Schriften in Verbindung steht:

Über Springers Leben ist bisher außerordentlich wenig bekannt; nicht einmal seine Geburts- und Todesdaten und sein vollständiger Name (er publizierte unter den Initialen „W. C. M.“ Springer) liegen uns vor. Sicher ist, dass er bis 1892 den „Elberfelder Brüdern“ angehörte, sich dann aber auf die Seite Ravens stellte – vielleicht weniger aus Sympathie mit Ravens Lehren als aus Opposition gegen die „zentralistische“ Art und Weise, wie die kontinentaleuropäischen „Brüder“ 1890/91 auf zwei Elberfelder Konferenzen ihre Entscheidung gegen Raven gefällt hatten. So richtete er am 5. Juni 1892 in einem Rundschreiben „eine scharfe Anklage gegen die autoritäre Haltung einiger führender Brüder“.8 Als Rudolf Brockhaus (1856–1932) dreißig Jahre später seine Abhandlung über Raven und seine Lehren schrieb, hatte er vielleicht nicht zuletzt Max Springer im Sinn, wenn er über die deutschen Raven-Verteidiger von 1892/93 wie folgt urteilte:

bemerkenswerter Weise waren es fast ausnahmslos Elemente, die schon seit längerer Zeit unzufrieden und vielfach eine Beschwerde für die örtlichen Versammlungen gewesen waren und nun einen willkommenen Anlass fanden, ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu geben.9

Dass dieses Motiv tatsächlich eine Rolle spielte, wird von dem Raven-Bruder Alfred Wellershaus (1897–1968) bestätigt:

Es gab in Deutschland einige Brüder, die schon längere Zeit unter dem nebeneingeschlichenen Lehrbrüdertum Elberfelds […] geseufzt hatten, und diese Brüder gingen nicht mit Elberfeld, sondern blieben bei F. E. Raven und der Wahrheit Gottes.10

Max Springer gründete 1893 die erste Zeitschrift der deutschen Raven-Brüder, Worte der Gnade und Wahrheit. Bereits Ende 1894 scheint er jedoch auch mit den Raven-Brüdern in Konflikt geraten zu sein, denn Raven schrieb am 17. Dezember 1894 an Thomas Henry Reynolds (1830–1930):

I am quite pained to hear about Springer and am quite in sympathy with your appeal.11

Etwa 1896 wandte Springer sich dann offenbar ganz von der Brüderbewegung ab; die Worte der Gnade und Wahrheit wurden 1897 von Christian Schatz (1869–1947) übernommen. Nach dem oben zitierten Hinweis Bernhard Kochs muss Springer sich eine Zeitlang zu den Baptisten gehalten haben; wen Koch mit „d[en]jenigen Brüder[n]“ meint, „mit denen M. Spr. […] noch später in Verbindung war“, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit feststellen. 1909 veröffentlichte Springer die Broschüre Der Weg zur schriftgemäßen Heiligung: Hingabe und Hindernisse (Mülheim/Ruhr, Evangelisches Vereinshaus), was möglicherweise auf eine Nähe zur Heiligungsbewegung hindeutet. Laut Ekkehard Hirschfeld war er um 1910 ein „wichtiger Mitarbeiter“ von Arthur Heinrich Großmann (1879–1958), der in Berlin eine freie, unabhängige „Christliche Gemeinschaft“ leitete.12 In deren Partnergemeinde in Posen hielt Springer Anfang 1910 eine Vortragsreihe, deren Thema noch durchaus „brüdertypisch“ klang:

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Auf der Warte 7 (1910), Heft 3, S. 4

Die Zeitschrift Auf der Warte, in der diese Anzeige und zwei Jahre später auch die „Titus-Blicker“-Artikelserie erschienen,13 wurde von Gustav Ihloff (1854–1938) und seinem Schwiegersohn Karl Möbius (1878–1962) in Neumünster/Holstein herausgegeben und stand der Gemeinschaftsbewegung nahe.

Nach diesen Veröffentlichungen verliert sich Springers Spur. Das wechselvolle Leben dieses Mannes, der sich vom überzeugten „Darbysten“ zum scharfen „Antidarbysten“ wandelte (man fühlt sich an F. W. Bernsteins legendären Zweizeiler erinnert: „Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche“), wäre zweifellos ein lohnendes Forschungsthema!

Die Artikelserie

Auf die Artikelserie „Ist der Darbysmus, was er vorgibt zu sein?“ wurde ich zuerst von Hartmut Wahl, einem geschätzten Kollegen aus dem „Arbeitskreis Geschichte der Brüderbewegung“, aufmerksam gemacht; er hatte im Archiv der Lippischen Landeskirche in Detmold eine handschriftliche Abschrift davon entdeckt. Auf der Suche nach der Originalveröffentlichung wandte ich mich ans Archiv der Evangelischen Allianz in Bad Blankenburg, wo vom Jahrgang 1912 der Warte allerdings nur ein einziges Heft vorhanden ist; immerhin konnte mir Archivar Werner Beyer aber zwei Antworten auf Leserbriefe aus dem Jahrgang 1913 zur Verfügung stellen. Die eigentliche Artikelserie erhielt ich schließlich über einen Dokumentlieferdienst von der Universitätsbibliothek Kiel. Seit heute ist sie auf bruederbewegung.de in zeichengetreuer Neuedition zugänglich.

Über die von „Titus Blicker“ geäußerte Kritik an der „Versammlung“ mag man geteilter Meinung sein; neben manchem Berechtigten finden sich in den Artikeln auch einige eher zweifelhafte Behauptungen. Interessanter sind die historischen Hinweise, die „Blicker“ hier und da einstreut. Gleich im ersten Satz heißt es:

„Die Versammlung“ ist in Deutschland in vier scharf getrennten Gruppen vertreten und eifrig tätig.14

An welche vier Gruppen „Blicker“ dabei denkt, erläutert er in Teil 2 der Serie:

Wenn die Schüler Darbys in Deutschland bisher auch nur in vier verschiedenen Lagern vertreten sind (ein großes und drei kleinere), die alle unter sich gut organisiert sind und ihre regelmäßig wiederkehrende Konferenz haben (die Elberfelder in Dillenburg, Elberfeld und Berlin; die Ravensche [englische] in Berlin und Düsseldorf; die Neudarbysten [open Brethern] in Homburg bei Wiesbaden; von der kleinsten mit etwa 20 kleinen Versammlungen ist uns der Konferenzort nicht bekannt) …15

Demnach zählt „Blicker“ auch die Offenen Brüder zu den „Schülern Darbys“; bei der vierten, offenbar noch recht neuen Gruppe dürfte es sich um die Glanton-Brüder handeln (deren Geschichte in Deutschland noch weitgehend unerforscht ist16).

Aufschlussreich ist auch die folgende Bemerkung über Georg von Viebahn (1840–1915), den Springer einige Jahre zuvor noch recht scharf angegriffen hatte:17

Viele Gläubige nehmen an, „die Versammlung“ sei nicht mehr so rigoros wie früher, wie es die Tätigkeit und Freiheit des Herrn v. V. beweise. Das bißchen evangelische Freiheit genießt selbst dieser warmherzige, treue Herr nur unter kleinlich nörgelndem Widerspruch.18

Seine eigene frühere Zugehörigkeit zu den „Brüdern“ lässt der Autor nur an einer einzigen Stelle durchblicken:

Schreiber hörte vor dreißig Jahren den tüchtigen Schriftausleger C. Brockhaus (gest. 9. 5. 1899) in einer großen Versammlung reden über den Auftrag und Wert, über die Verantwortung und Rechte eines Bruders, der da lehrt.19

Die Replik

1913 erschienen in Auf der Warte zwei Nachträge zu „Titus Blickers“ Artikelserie, ein redaktioneller und einer von „Blicker“ selbst (ebenfalls in der Neuedition auf bruederbewegung.de enthalten). Beide sind an „Kaufmann A. Mann-Hildesheim“ gerichtet, der einen Offenen Brief an die Redaktion geschrieben und diesen anscheinend auch sonst breit gestreut hatte. Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit handelt es sich dabei um den Glanton-Bruder August Mann, der in Hildesheim u.a. als Verleger wirkte (so gab er 1909 und 1921 das Liederbuch Geistliche Lieder und Gesänge heraus20). Ein wesentlicher Teil des Offenen Briefes muss aus „persönlichen Verdächtigungen gegen den Verfasser“21 (also Blicker bzw. Springer) bestanden haben, den Mann „mit einem sittlichen Makel offen behafte[te]“ und „als einen abgefallenen Schüler Darbys hart brandmark[te]“22 – Vorwürfe, auf die „Blicker“ in seiner Antwort aber nicht einging:

Das sind häßliche Ausführungen, darauf antwortet man nicht! Mit solchem Geist streitet man nicht (1. Kor. 11, 16; Phil. 4, 8).23

Leider liegt mir dieser Offene Brief bislang nicht vor; sollte ein Leser ihn besitzen und mir eine Kopie zugänglich machen können, wäre ich dafür dankbar!


100. Todestag von Paul Jacob Loizeaux

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Paul Jacob Loizeaux (1841–1916)

Wer hat den Tisch des Herrn? Diese Frage hat die „Brüder“ schon immer beschäftigt. Eine eher ungewöhnliche Antwort (zumindest für einen Geschlossenen Bruder) gab darauf der amerikanische „Grant-Bruder“ Paul Jacob Loizeaux – so ungewöhnlich, dass sich Rudolf Brockhaus 1925 veranlasst sah, im Botschafter des Heils in Christo eine Richtigstellung zu veröffentlichen.

Wer war Paul Jacob1 Loizeaux? Geboren wurde er im Oktober2 1841 als ältester Sohn des Seidenhändlers Jean Jacques Loizeaux (1816–1885) und seiner Frau Marie Susanne geb. Dusse (1819–1892) im nordfranzösischen Ort Lemé. 1850 zog die Familie, die seit Generationen protestantisch war, in den Süden Frankreichs, da es dort bessere protestantische Schulen gab. Als 1853 das Seidengewerbe in eine Krise geriet, emigrierten sie in die USA; nach kurzem Aufenthalt in Illinois ließen sie sich in Vinton (Iowa) nieder und begannen erfolgreich Landwirtschaft zu betreiben.

Paul Jacob besuchte von 1860 bis 1862 das Charlier Institute, eine höhere Schule in New York, und begann anschließend eine juristische Ausbildung in einer Anwaltskanzlei seiner Heimatregion. Aufgrund von Gewissensbedenken brach er diese jedoch bald wieder ab und kehrte als Lehrer ans Charlier Institute zurück. Er bemühte sich, ein moralisch einwandfreies Leben zu führen, und erhielt von seiner Kirche sogar eine Lizenz zum Predigen, war bis dahin aber noch nicht zum Evangelium der Gnade durchgedrungen; dies geschah erst, als er während eines Krankenbesuchs auf Römer 3 und die Rechtfertigung allein aus Glauben hingewiesen wurde. Loizeaux beschloss, seinen Beruf aufzugeben und sich fortan nur noch der Verkündigung dieser Botschaft zu widmen.

In New York hatte er Celia Sanderson (1842–1908) kennengelernt, die dort ebenfalls zur Schule ging und bereits den „Brüdern“ angehörte. Am 4. Februar 1868 heirateten die beiden in Celias Heimatstadt Milwaukee (Wisconsin) und zogen anschließend wieder nach Vinton. Durch Loizeaux’ Zeugnis fand ein großer Teil seiner Familie, darunter seine Eltern und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Timothée Ophir Loizeaux (1843–1927), zur Gewissheit des Heils. In Vinton und Umgebung entstanden mehrere Hausgemeinden.

Im Sommer 1870 besuchte Loizeaux die große Konferenz der „Brüder“ in Guelph (Ontario), zu der auch John Nelson Darby (1800–1882) angereist war. Das dort Gehörte beeindruckte ihn sehr, und so schloss er sich – ebenso wie mehrere andere Mitglieder seiner Familie – den „Brüdern“ an. 1876 gründete er gemeinsam mit seinem Bruder Timothée in Vinton den Schriftenverlag Bible Truth Depot, der 1879 nach New York verlegt wurde und sich dort unter dem Namen Loizeaux Brothers bald zu einem der wichtigsten amerikanischen Verlage der „Brüder“ entwickelte.

Ab 1881 wohnten die Brüder Loizeaux in dem ca. 40 km westlich von New York gelegenen Plainfield (New Jersey), wo sich auch Frederick William Grant (1843–1902) niederließ. Paul Loizeaux predigte viel in den umliegenden Versammlungen, verkündigte das Evangelium und schrieb etliche Broschüren und Zeitschriftenartikel.3 Die höchste Auflage (mehrere Millionen!) erreichte eine bereits 1871 erschienene Schrift über den zum Tode verurteilten Verbrecher Daniel Mann, der im Gefängnis von Kingston (Ontario) durch Loizeaux zum Glauben gekommen war.4 Über seine Evangelisationsweise berichtet Henry Allan Ironsides Biograf eine interessante Episode:5

Mr. Loizeaux war vor allen Dingen ein Evangelist, der durch sein kraftvolle Verkündigung viele Menschen ansprach.

Eines Abends begab sich Ironside früh zum Versammlungssaal. Er stand hinten in einer kleinen Nische, die durch eine Querwand vom Rest des Saales abgetrennt war. Da kamen zwei Männer herein und betraten gleich den Hauptraum. Einer der beiden sagte: „Ist dir aufgefallen, worin sich der Predigtstil Loizeaux’ von dem Ironsides unterscheidet?“

Harry hielt es für angebracht, seine unsichtbare Anwesenheit kundzutun, aber bevor er überlegen konnte, was er sagen solle, antwortete der zweite Mann dem Fragenden: „Die beiden kann man überhaupt nicht miteinander vergleichen. Sie sind so grundverschieden.“

Jetzt war es zu spät, und im nächsten Augenblick hörte der unfreiwillige Lauscher den ersten Mann sagen: „Ja, aber es gibt eine Sache, die ins Auge fällt. Wenn Paul Loizeaux spricht, sagt er den Leuten immer, was sie bekommen werden, wenn sie zu Christus kommen. Harry Ironside dagegen sagt ihnen immer, was sie erwartet, wenn sie es nicht tun.“

Ironside wurde von diesem Gegensatz so getroffen, daß er das Gespräch später am Abend Mr. Loizeaux mitteilte. Jener sagte auf die für ihn typische Art: „Ja, mein lieber junger Bruder, das sollte uns zu denken geben. Wir dürfen niemals vergessen, daß unser großer Auftrag darin besteht, die Gnade Gottes zu verkünden.“

Als es 1884 zur „Grant-Trennung“ kam, blieben die Brüder Loizeaux treu auf der Seite Grants. Bei den späteren Vereinigungsgesprächen mit anderen „Brüder“-Gruppen spielte Paul Loizeaux meist eine führende Rolle, so bereits 1886, als William Kelly (1821–1906) nach Amerika kam, um die Aussichten für einen Zusammenschluss zwischen „Kelly-“ und „Grant-Brüdern“ zu erkunden (was letztlich an der Verbindung der „Grant-“ mit den „Stuart-Brüdern“ scheiterte, die Kelly nicht akzeptieren konnte). Der 1892 getroffenen Entscheidung der „Grant-Brüder“, auch Offene Brüder zum Brotbrechen zuzulassen, stand Loizeaux skeptisch gegenüber, trug sie aber doch mit – bevor sie 1893 und 1894 schrittweise wieder rückgängig gemacht wurde. 1909 reiste Loizeaux mit drei anderen führenden „Grant-Brüdern“ nach England, um einen möglichen Zusammenschluss mit den „Glanton-Brüdern“ zu erörtern, doch konnte darüber ebenfalls keine Einigung erzielt werden – Loizeaux nahm es den „Glanton-Brüdern“ übel, dass sie sich nicht eindeutig vom Ausschluss Clarence Esme Stuarts (1885) distanzieren wollten, und sprach sich schließlich gegen ein Zusammengehen mit ihnen aus. Den Aufenthalt in Europa nutzte er danach noch zu einem Besuch seiner französischen Heimat.

Wann Loizeaux seine kleine Broschüre über den Tisch des Herrn schrieb, ist unbekannt – sie erschien unter dem Titel The Lord’s Table: Who Has It? ohne Jahresangabe im Verlag Loizeaux Brothers. Den Hintergrund bildeten vermutlich die Gespräche mit anderen „Brüder“-Gruppen, die den Tisch des Herrn für sich allein beanspruchten. Das Fazit von Loizeaux’ Überlegungen lautete:

Es gibt auch nur einen Tisch des Herrn; der andere ist „der Tisch der Dämonen“ (1. Kor. 10, 21), und der Tisch des Herrn ist da, wo der „eine Leib“ des Herrn ist. Er gab ihn der „Versammlung, welche sein Leib ist“, und eine jede Teilkirche, die dessen ausschließlichen Besitz für sich in Anspruch nehmen würde, wäre damit ebenso stolz und überheblich, als wenn sie behaupten würde, ausschließlich der Leib des Herrn zu sein. […] Die wahre Kirche, der wahre Tisch des Herrn, die Gegenwart des Herrn in der Mitte der Seinen sind Dinge, die niemals Besitz einer Sekte sein können. Nie kann irgendein bestimmter Teil des Volkes Gottes diese Dinge in ausschließlicher Weise vorwurfslos für sich in Anspruch nehmen. Nur Hochmut kann dazu führen, und „Gott widersteht dem Hochmütigen“!6

Auch wenn in einer Gemeinde Missstände vorhanden seien, die eine Trennung erforderlich machten, bedeute das nicht, dass dort nicht mehr der Tisch des Herrn sei:

Wenn also eine Gemeinschaft von Gläubigen an Grundsätzen festhält, die durch das Wort Gottes verurteilt werden, oder wenn sie ungerecht handelt und sich weigert, Buße zu tun oder von der Ungerechtigkeit abzustehen, so können wir dennoch nicht behaupten, daß sie nicht mehr des Herrn Gegenwart in ihrer Mitte genießen oder den Tisch des Herrn haben. Diese Frage zu beantworten ist nicht unsere Angelegenheit. Wir haben nur einfach Gott in allen Dingen, die Sein Wort uns anbefiehlt, zu gehorchen.7

Als diese Äußerungen – und ähnliche von Samuel Ridout (1855–1930), einem anderen führenden „Grant-Bruder“ – Rudolf Brockhaus zu Gesicht kamen, reagierte er beunruhigt:

Hört und liest man doch heute oft Worte, die man bisher in der Mitte und in den Schriften der Brüder nicht zu hören oder zu lesen gewöhnt war. Es werden Ansichten geäußert, die befürchten lassen, daß man Grundsätze, die früher für göttlich gehalten wurden, bereits aufgegeben hat, oder daß man doch in Gefahr steht, sie aufzugeben.8

Als Beispiele zitiert Brockhaus zunächst zwei Sätze von Ridout:

So lehrt man z.B. in Verbindung mit der uns beschäftigenden Frage: „Der Tisch des Herrn wurde einst für Seine ganze Kirche gegeben und kann von diesem Gesichtspunkt aus von keiner Vereinigung von Gläubigen für sich, unter Ausschluß anderer, in Anspruch genommen werden“. Oder: „Der Besitz des Tisches des Herrn steht mit der Stellung des Christen in Verbindung und nicht mit seiner Treue im Wandel“.9

Dann folgt die bereits oben zititerte Äußerung von Loizeaux:

Ja, man hat sogar geschrieben: „Wenn eine Vereinigung von Christen Grundsätze festhält, die das Wort Gottes verurteilt, oder ein Unrecht begeht und sich nun weigert, im Gehorsam gegen Gott Buße zu tun, oder von der Ungerechtigkeit abzustehen, so maßen wir uns nicht an zu sagen, daß sie nicht länger des Herrn Gegenwart oder des Herrn Tisch in ihrer Mitte habe“. Das sind, wie gesagt, Worte, die mit dem, was wir bisher gehört und gelernt haben, in unmittelbarem Widerspruch stehen. Es ist aber immer eine ernste Sache, die alten Grenzen, die die Väter gesetzt haben, zu verrücken. Gottes Wort warnt uns davor in Sprüche 22, 28.10

Brockhaus hatte Ridout seine Bedenken zunächst brieflich mitgeteilt (12. Mai 1925, mitunterzeichnet von Johannes Nicolaas Voorhoeve) und verarbeitete sie anschließend zu dem bekannten Botschafter-Artikel „Der Tisch des Herrn“, der auch als separate Broschüre11 erschien:

Sie [die nachstehenden Gedanken] wurden anläßlich eines Briefwechsels über eine Zuchtfrage, deren Entscheidung eine schmerzliche und weitgehende Trennung nach sich gezogen hat,12 niedergeschrieben, um beide Seiten noch einmal an die einfachen Grundlinien des Wortes Gottes zu erinnern, sowohl hinsichtlich der Feier des Abendmahls und des Zusammenkommens im Namen Jesu „außerhalb des Lagers“, als auch einiger mit dem Tische des Herrn in Verbindung stehender Wahrheiten.13

Mit Loizeaux konnte sich Brockhaus nicht mehr persönlich auseinandersetzen, da er zu dieser Zeit schon nicht mehr unter den Lebenden weilte. Er starb am 3. Oktober 1916, heute vor genau 100 Jahren, an seinem Wohnort Plainfield und wurde auf dem Hillside Cemetery in Scotch Plains begraben.

Ironside fasst seinen Dienst wie folgt zusammen:

cultured and of magnetic personality, he became a spirit-filled and flaming evangelist and went everywhere proclaiming the Word, in self-denying dependence on the Lord.14

Später nennt er ihn noch

the able evangelist whose fiery eloquence had made him the outstanding preacher in this particular section of the movement.15

Online zugängliche Biografien Loizeaux’ sind mir keine bekannt. Die obigen Informationen entstammen im Wesentlichen den Büchern von Noel,16 Ironside17 und Ouweneel,18 überprüft und ggf. korrigiert durch die Broschüre A Good Soldier of Jesus Christ. A Short Memoir of Paul J. Loizeaux von Samuel Ridout (New York [Loizeaux Brothers] o.J.).


100. Todestag von Georg von Viebahn

viebahn
Georg von Viebahn

Heute vor 100 Jahren starb der bekannte „General und Evangelist“ Georg von Viebahn. Aus diesem Anlass veröffentlicht bruederbewegung.de sechs historische Kurzbiografien und Porträts in zeichengetreuen Neueditionen:

  • Friedrich Wilhelm von Viebahn: Georg von Viebahn. Ein Streiter Jesu Christi (1918). Dieses Lebensbild wurde von Viebahns ältestem Sohn als Einleitung zu einer Auswahl aus der Traktatserie Zeugnisse eines alten Soldaten an seine Kameraden verfasst. Wichtige Quelle für alle späteren Biografien [18 Seiten, 154 KB].
  • Emil Dönges: General von Viebahn. Ein Gedenkblatt von Freundeshand (aus: Gedenk-Blätter aus ernster Zeit, um 1919). Der Autor, einer der führenden deutschen Geschlossenen Brüder der zweiten Generation, war mit Viebahn befreundet und sprach u.a. auf seiner Trauerfeier in Berlin. Besonders interessant sind einige persönliche Erinnerungen und Bezüge zur Brüderbewegung [11 Seiten, 123 KB].
  • Ernst Modersohn: Georg von Viebahn (aus: Menschen, durch die ich gesegnet wurde, 1937; wiederabgedruckt in Die Botschaft, 1951). In diesem Auszug aus seinen Lebenserinnerungen fasst der bekannte Pfarrer und Allianzmann Modersohn den „besonderen Auftrag“ Viebahns in vier Punkten zusammen [5 Seiten, 72 KB].
  • Ernst Lange: Zum hundertjährigen Geburtstag von Georg von Viebahn (aus: Die Botschaft, 1940). Der Verfasser dieses äußerst respektvollen Porträts war ein bekannter Offener Bruder und gehörte dem von Viebahn begründeten „Verband gläubiger Offiziere“ an [5 Seiten, 58 KB].
  • Anonym: Eine Erinnerung an General von Viebahn (aus: Die Botschaft, 1952). Zunächst wird eine Zeitungsnotiz zur Aufhebung des Viebahn’schen Familienfriedhofs in Engers kommentiert, anschließend folgen Erinnerungen eines Bruders Ö. aus Solingen, der Viebahn während seiner Soldatenzeit in den 1890er Jahren kennengelernt hatte [4 Seiten, 62 KB].
  • Kurt Karrenberg: Ein Streiter Gottes (aus: Die Botschaft, 1966). Dieser – leicht verspätet erschienene – Gedenkartikel zum 50. Todestag Viebahns, geschrieben vom damaligen Schriftleiter der Botschaft, fasst im Wesentlichen die Biografie Friedrich Wilhelm von Viebahns zusammen [7 Seiten, 80 KB].

Einige weitere Lebensbilder und Erinnerungen sind ebenfalls online zugänglich:

  • Arend Remmers: Georg von Viebahn (1840–1915) (aus: Gedenket eurer Führer. Lebensbilder einiger treuer Männer Gottes, Hückeswagen ²1990, S. 134–139)

Verweisen möchte ich schließlich noch auf die von Martin Arhelger bereitgestellte umfangreiche Sammlung von Zeitschriftenbänden und Broschüren Viebahns (darunter auch die bekannte Schrift Was ich bei den Christen gefunden habe, die sich nur im Namen Jesu versammeln [1902]; Neuedition auf bruederbewegung.de) sowie auf den bedeutsamen Briefwechsel zwischen Viebahn und Rudolf Brockhaus, dem führenden deutschen Geschlossenen Bruder im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts (Viebahn an Brockhaus, 14. Dezember 1905; Brockhaus an Viebahn, 15. Januar 1906).