Von den meisten Pionieren der deutschen Offenen Brüder liegen bislang keine umfangreicheren Lebensbilder vor; auch Christian Schatz bildet da keine Ausnahme. Anlässlich seines heutigen 150. Geburtstages möchte ich hier wenigstens drei kurze Skizzen veröffentlichen, die sonst noch nicht online zugänglich sind.
Ich beginne mit einem Blatt aus einer als Typoskript überlieferten Chronik der Familien Brackelsberg/Braselmann aus Ennepetal-Milspe:1
In Urach im schönen Württemberg ist Christian Schatz am 6. Oktober 1869 geboren. Er heiratete Anna Osthoff, die ihm aber keine Kinder schenkte.
Christian war Lehrer an einer Mittelschule, trat aber mit etwa 22 Jahren aus der Kirche aus, um einer von Darby gegründeten freikirchlichen Gemeinschaft angehören zu können. Deshalb musste er auch seinen Beruf aufgeben, und so kam er nach Wuppertal-Barmen zu einem Orgelbauer. Später war er Hauslehrer bei Julius und Daniel Brackelsberg und Carl Osthoff, dessen Tochter er ehelichte. Nachdem er zwei Jahre als Soldat in Metz gedient hatte, heiratete er 1893.2
Später war Christian Hausverwalter der Familie Menzel in Düsseldorf, dann Kaufmann in einer Giesserei in Altenvoerde. Nach dem Konkurs dieser Fabrik wurde er Metallwarenvertreter in Bad Homburg.
Christian Schatz war ein sehr ernster Christ, dabei auch in der biblischen Auslegung sehr bewandert. Das zeigt auch, dass er Mitbegründer der „Offenen Brüder“ geworden ist. Nebenbei schriftstellerte er auch.
Am 1. Januar 1947 hauchte Schatz sein vielbewegtes Leben aus. Er starb an Altersschwäche aufgrund der schlechten Ernährungslage in damaliger Zeit. Sein Sterbeort ist Bad Homburg.
Interessant ist hier u.a. die Information, dass Schatz erst mit ca. 22 Jahren zu den „Brüdern“ kam, also etwa 1891/92. Um diese Zeit fanden auf dem europäischen Kontinent gerade die Auseinandersetzungen über die Lehren F. E. Ravens statt. Möglicherweise gehörte Schatz also nie den „Elberfelder Brüdern“ an, sondern trat gleich den Raven-Brüdern bei, deren Zeitschrift Worte der Gnade und Wahrheit er von 1897 bis 1900 in Altenvoerde herausgab (nachdem sich der erste Herausgeber, Max Springer, den Offenen Brüdern zugewandt hatte).
Die zweite Skizze stammt aus der Festschrift zum 60-jährigen Bestehen der Offenen Brüdergemeinde Bad Homburg, die in Schatz’ Todesjahr 1947 erschien. Auf deren Seite 12 heißt es zunächst knapp:
Vom Jahre 1917 an nahm Bruder Schatz, der inzwischen nach Homburg übergesiedelt war, regen Anteil an dem Dienst in der Gemeinde.3
Sechs Seiten weiter wird ausführlicher berichtet:
Am 1. 1. 47 ging Bruder Schatz im Alter von 77 Jahren nach längerer Krankheit heim. Drei Tage vor seinem Tode sang ihm der Gemischte Chor einige Lieder zur Ermunterung, die ihn auch sichtlich erfreuten. Ein arbeitsreiches Leben fand damit seinen Abschluß. Bruder Schatz war durch seine umfassende Schriftkenntnis und seine eiserne Energie über den Rahmen der örtlichen Gemeinde hinaus bekannt und bemühte sich unablässig für das Werk des Herrn, besonders auch für die Brüder in der Mission. Obwohl er selbst kinderlos war, so hatte er doch stets ein warmes Empfinden für die Jugend.
Bei der Vereinigung der verschiedenen Gemeindegruppen war er mithelfend tätig und freute sich, als diese Bemühungen zum Erfolg führten.
Bruder Schatz mußte im November 1945 seine Tätigkeit als Gemeindeleiter krankheitshalber aufgeben. Bruder Friedrich Adolf Zeuner wurde in einer Gemeindeversammlung als Nachfolger gewählt und dient seitdem unserer Gemeinde als Gemeindeleiter in vorbildlicher Treue. Bruder Friedrich Kleemann steht ihm als Stellvertreter zur Seite.4
Mit der „Vereinigung der verschiedenen Gemeindegruppen“ ist natürlich der Beitritt der Offenen Brüder zum BfC (1937) und der Zusammenschluss des BfC mit den Baptisten (1941/42) gemeint. Dass Schatz sich über den letzteren durchaus nicht ganz ungeteilt „freute“, verrät die Festschrift zum 100-jährigen Bestehen der Bad Homburger Gemeinde (1987):
Der gebürtige Württemberger war Lehrer, mußte jedoch diesen Beruf aufgeben, weil er sich der „Christlichen Versammlung“ angeschlossen hatte. Als Privatlehrer in Wuppertal hielt er Kontakt zu den Versammlungen am Ort. 1917 zog er nach Bad Homburg und arbeitete als Industriekaufmann. In die Arbeit der Gemeinde brachte er seine reichen Gaben ein und wurde zu einem der führenden Männer unter den „Offenen Brüdern“ in Deutschland. Zusammen mit Joh. Warns von der Bibelschule in Wiedenest gab er die Zeitschrift „Saat und Ernte“ im Verlag Zeuner heraus. Er war ab 1937 ein überzeugter Förderer des Zusammenschlusses mit den sogenannten „Elberfeldern“, der darbystischen Gruppe unter den Versammlungen. Den Zusammenschluß mit dem Bund der Baptistengemeinden in Deutschland im Jahre 1942 vollzog er zunächst zögernd, dann – um der Einheit der Gemeinde willen – bewußt mit.5
Von Christian Schatz’ Veröffentlichungen hat bruederbewegung.de bisher vier zugänglich gemacht:
Über Springers Leben ist bisher außerordentlich wenig bekannt; nicht einmal seine Geburts- und Todesdaten und sein vollständiger Name (er publizierte unter den Initialen „W. C. M.“ Springer) liegen uns vor. Sicher ist, dass er bis 1892 den „Elberfelder Brüdern“ angehörte, sich dann aber auf die Seite Ravens stellte – vielleicht weniger aus Sympathie mit Ravens Lehren als aus Opposition gegen die „zentralistische“ Art und Weise, wie die kontinentaleuropäischen „Brüder“ 1890/91 auf zwei Elberfelder Konferenzen ihre Entscheidung gegen Raven gefällt hatten. So richtete er am 5. Juni 1892 in einem Rundschreiben „eine scharfe Anklage gegen die autoritäre Haltung einiger führender Brüder“.1 […]
Max Springer gründete 1893 die erste Zeitschrift der deutschen Raven-Brüder, Worte der Gnade und Wahrheit. Bereits Ende 1894 scheint er jedoch auch mit den Raven-Brüdern in Konflikt geraten zu sein, denn Raven schrieb am 17. Dezember 1894 an Thomas Henry Reynolds (1830–1930): “I am quite pained to hear about Springer and am quite in sympathy with your appeal.”2 Etwa 1896 wandte Springer sich dann offenbar ganz von der Brüderbewegung ab; die Worte der Gnade und Wahrheit wurden 1897 von Christian Schatz (1869–1947) übernommen.
In den letzten Wochen war es mir möglich, das Dunkel um Springers Leben nach 1896 ein wenig zu erhellen. Dazu trug zunächst die Veröffentlichung der 47 Bände Echoes of Service bei, über die ich in meinem letzten Blogeintrag berichtete – denn ab 1898 begegnete den Lesern dieser Zeitschrift der Name Max Springer in großer Regelmäßigkeit!3 Springer wandte sich also nach seiner Trennung von den Raven-Brüdern durchaus noch nicht von der Brüderbewegung ab, sondern er war in den folgenden Jahren eine der wichtigsten Kontaktpersonen der Offenen Brüder in Deutschland.
Versammlungen im Rheinland
Erstmals erwähnt wird Springer im zweiten Septemberheft 1898 in einem Bericht Joseph W. Jordans,4 aus dem hervorzugehen scheint, dass sich im Rheinland unter Springers Einfluss bereits mehrere Versammlungen von den Geschlossenen (oder Raven-) Brüdern gelöst hatten bzw. dabei waren, sich zu lösen:5
Wir waren erfreut, im Rheinland eine Anzahl von Gemeinden zu finden, die im Namen des Herrn versammelt waren, und konnten einige davon besuchen und Zusammenkünfte abhalten, nämlich in Elberfeld und Barmen sowie in Vohwinkel, wo wir den Sonntag verbrachten. Es gibt in diesem Teil Deutschlands viele, die zum Volk Gottes gehören, und manche von ihnen sehnen sich danach, von menschlicher Knechtschaft frei zu sein und die Freiheit zu genießen, mit der der Herr uns freimacht. Ich möchte die Kinder Gottes bitten, für die Arbeit in diesem Teil Deutschlands zu beten und dass die Hände unseres Bruders Max Springer in seiner Arbeit für den Herrn gestärkt werden mögen.6
Offenbar dieselben Versammlungen besuchte der Singapurmissionar Alexander Grant Anfang 1899:
Im Rheinland fand Mr. Grant […] kleine Versammlungen, ruhig, fast bis zur Trägheit, mit äußerster Hochachtung vor der Autorität der Schrift, und doch scheinen kaum Seelen gewonnen zu werden. Dennoch gab es offensichtliche Anzeichen wahrer Gottesfurcht. Unser Bruder suchte ihnen die Wahrheit vorzustellen, dass die Aufgabe des Dieners Gehorsam ist und nicht bloß die Ausführung von „Grundsätzen“.7
Im Frühjahr 1899 kam der deutsch-englische Judenmissionar Max Isaac Reich ins Rheinland und besuchte gemeinsam mit Max Springer („der sich immer mehr von seinem Beruf freimachen kann, um am Wort zu dienen“8) die Versammlungen in Vohwinkel (Springers Wohnort), Elberfeld, Mettmann und Wald:
In vielen Herzen ist ein wirkliches Sehnen, dem in Johannes 17 ausgedrückten Wunsch unseres Herrn Jesus „auf dass sie alle eins seien“ ein Stück weit nachzukommen. Nicht die bloße Einheitlichkeit einer kirchlichen Körperschaft, sondern die lebendige Einheit in der Kraft göttlichen Lebens, die Christus zum Mittelpunkt und Gegenstand hat.9
Auch in den folgenden Jahren statteten englische Offene Brüder dem Rheinland immer wieder Besuche ab (und wurden häufig von Springer übersetzt): Im Mai 1900 nahmen Reich und der angehende Österreichmissionar Frederick Butcher an einer Konferenz in Vohwinkel teil,10 im Juni 1900 kam Edmund Hamer Broadbent nach Vohwinkel, Düsseldorf und Krefeld,11 im August 1901 Echoes-Mitherausgeber William Henry Bennet in Begleitung von Reich und eventuell wieder Broadbent nach Köln, Vohwinkel, Barmen und Düsseldorf,12 im Februar 1904 Belgienmissionar William J. Nock nach Vohwinkel, Velbert und Neviges13 und im August 1904 wiederum Bennet nach Solingen, Vohwinkel und Velbert.14
Der Evangelist
Springer selbst betätigte sich ab 1900 zunehmend als Evangelist, zunächst in Vohwinkel und Umgebung,15 bald aber auch darüber hinaus – mit sehr erfreulichen Resultaten:
Im Mai 1904 konnte er von jeweils vierzehntägigen Evangelisationen in Bochum (40–50 Bekehrungen) und Werden (70–80 Bekehrungen) sowie einem Evangelisationsnachmittag in Langerfeld berichten,16 im November 1904 von einer Evangelisation in Mülheim.17
Ende 1905 bis Anfang 1906 hielt Springer mehrere gut besuchte Evangelisationen in Mülheim, Vohwinkel und Oberhausen ab: „Es gibt einen tiefen Seelenhunger, der das Werk des Herrn selbst ist. […] Gottes Gnade besucht Deutschland. Oh, mögen sich Herzen dafür öffnen!“18
Im März 1906 folgte eine weitere zweiwöchige Evangelisation in Oberhausen,19 im Mai/Juni 1906 eine dritte, zu der jeden Abend 300–500 Personen kamen; über 90 bekehrten sich, „und ich hoffe, dass der Herr einige dahin führen wird, sich einfach zu seinem Namen hin zu versammeln“.20
Im Juli 1906 predigte Springer in Holten (heute ein Stadtteil von Oberhausen-Sterkrade): „Ich hatte jeden Tag zwei Zusammenkünfte und fühlte mich sehr glücklich unter den lieben Brüdern dort, die in der Wahrheit sehr gute Fortschritte machen.“21
Bereits 1904 hatte Springer auch Missionsreisen ins Ausland zu unternehmen begonnen; so evangelisierte er im Herbst 1904 sechs Wochen lang in Siebenbürgen, Bukarest und Budapest,22 Anfang 1905 erneut in Siebenbürgen,23 im Herbst 1905 fünf Wochen lang in Biel (Schweiz) und danach abermals in Siebenbürgen und Budapest,24 im Februar/März 1906 in Ungarn25 und im Herbst 1906 in Kroatien und Ungarn.26
Ab 1907 verlagerte er seinen Lebensmittelpunkt vom Rheinland zunehmend in Richtung Berlin, wo er in zunächst halbjährlichen Abständen mehrwöchige Vortragsreihen hielt, bevor er sich Ende 1910 dauerhaft dort niederließ:27
Im Frühjahr 1907 veranstaltete er sechs Wochen lang abends Evangelisationen und nachmittags Zusammenkünfte für Christen „aus allen Benennungen“, die „ein Sehnen nach der Wahrheit zeigten und ein tiefes Verlangen, den Herrn besser zu kennen“.28
Im Herbst 1907 fand eine fünfwöchige Vortragsreihe (vorwiegend für Christen) in Charlottenburg und Halensee mit zwei Veranstaltungen täglich statt. Abends erschienen oft 700–800 Zuhörer, an Sonntagen über 1000, und es kam zu etlichen Bekehrungen (allein am 20. Oktober z.B. 60–70).29
Im Frühjahr 1908 evangelisierte Springer im Osten Berlins („Ich spreche nicht gerne von Ergebnissen, aber der Meister hat mich sehr ermutigt, und ich hatte die Freude, viele zu Christus kommen zu sehen“) und hielt nachmittags Vorträge für Christen, die besonders bei Angehörigen der höheren Gesellschaftsschichten auf zunehmende Resonanz stießen:30 „An einem Ort im Zentrum Berlins hatte ein Komitee adliger Damen Zusammenkünfte um 11 Uhr morgens anberaumt, die von dieser Klasse gut besucht wurden, darunter auch einigen mit Verbindungen zu unserem Königshof. Der Herr öffnete die Herzen vieler für seine Wahrheit.“31
Im Herbst 1908 kam Springer erneut zu einer sechswöchigen Vortragsreihe mit zwei Vorträgen täglich nach Charlottenburg; die Zuhörerzahl wuchs zum Schluss auf 400–700 Personen.32
Im Herbst 1909 arbeitete Springer mehrere Monate in Berlin; zuerst hielt er täglich zwei Vorträge in Charlottenburg, ab November evangelisierte er im Osten der Stadt „im sozialistischen und anarchistischen Viertel“.33
Springers Missionsreisen in die Ferne wurden während dieser Zeit fortgesetzt und verstärkt; so finden wir ihn im Sommer 1907 wieder in Siebenbürgen,34 im November 1907 auf der Insel Usedom,35 im April 1908 auf Schloss Schedlau in Schlesien (wo er auf Einladung von Graf Pückler neun Vorträge hielt),36 im Sommer 1908 in Lettland (u.a. in Riga und auf Schloss Kremon, wo er mit der Familie Lieven das Brot brach),37 im November 1908 in Herrnhut,38 im Januar 1909 in Königsberg,39 im Januar 1910 in Ungarn und eventuell Siebenbürgen40 und Ende 1910 in Polen.41
Anfang der 1910er Jahre kühlte seine Beziehung zu den Offenen Brüdern dann aber offensichtlich ab – sein letzter Bericht in Echoes of Service erschien im Januar 1911, und bereits ein Jahr später bezeichnete er die Offenen Brüder in seiner pseudonym erschienenen Artikelserie „Ist der Darbysmus, was er vorgibt zu sein?“ als „Neudarbysten“, die sich aus seiner Sicht offenbar nur wenig von den anderen „Schülern Darbys“ unterschieden.42 Welche gemeindliche Richtung er nun einschlug, möchte ich in einem zweiten Beitrag darstellen.
„Ich kenne,“ hat ein Kenner der „Versammlung“ gesagt, „eine gleichartige sicher funktionierende Organisation nur noch im deutschen Heere und im Jesuitenorden.“1
Wer dieser „Kenner der ‚Versammlung‘“ war, ist uns nicht überliefert; immerhin konnte jetzt aber die Quelle identifiziert werden, der Nagel dieses Zitat entnommen hatte. Es handelt sich um die vierteilige Artikelserie „Ist der Darbysmus, was er vorgibt zu sein?“ eines gewissen Titus Blicker, erschienen 1912 in der Zeitschrift Auf der Warte. Ein Blatt zur Förderung und Pflege der Reichgottesarbeit in allen Ländern. Gleich im ersten Teil schreibt Blicker:
Keine der lutherischen, auch keine der reformierten, der methodistischen, baptistischen oder irgend eine der unabhängigen Kirchen, ja selbst nicht einmal die römische kann so rasch und sicher ein Glied, einen Lehrenden exkommunizieren und für sie schadlos machen, wie der alte Darbysmus in seinen Bündnissen deutscher, englischer, französischer und anderer Zungen. Jeder Bund hat eine so fest gegliederte Organisation, daß ein Knecht Gottes, der sie von England und anderwärts her kennt, zum Schreiber sagte: Ich kenne eine gleichartige sicher funktionierende Organisation nur noch im deutschen Heere und im Jesuitenorden.2
Auch ein zweites Zitat Nagels – nur wenige Zeilen nach dem oben angeführten – stammt aus dem Artikel von Blicker:
Es ist keine Übertreibung, wenn jemand bei einer Erörterung dieser Fragen sagt: „Gewiß hat keine gläubige Gemeinschaft stärker das hierarchische System verneint und in allen diesbezüglichen Schriften bekämpft, als die darbystischen Gruppen, und gerade sie haben dieses System.“3
Im Original heißt es:
Gewiß hat keine evangelische Kirche, keine gläubige Gemeinschaft stärker das hierarchische System verneint und in allen seinen diesbezüglichen Schriften bekämpft, als die vielen darbystischen Gruppen, und gerade sie haben dieses System.4
Blickers Hauptthema, wie es sich in diesen Zitaten und auch bereits im Titel ausdrückt, ist die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der „Versammlung“: Während sie sich immerfort auf das Wort Gottes und die Leitung durch den Heiligen Geist berufe, folge sie in Wirklichkeit doch nur den Festlegungen Darbys:
Darbys Form und Art ward Sitte; die Sitte ward Gewohnheit; die Gewohnheit ward Natur; die Natur erzwang die Notwendigkeit, die unevangelische, unpaulinische Gesetzlichkeit!5
Diese kleinliche Nachahmung in so vielen ernsten Fragen steht Betern und ernsten Bibelchristen schlecht an, sonderlich aber solchen, die in allen Schriften in allen erdenklichen Tonarten behaupten, sie und sie allein richteten alles ein nach dem Worte Gottes, und bei ihnen stände alles unter der Leitung des Heiligen Geistes.6
Der Autor
Wer war Titus Blicker? Eine Google-Suche erbringt (wenn man von den Telefonnummern einiger nordamerikanischer Namensvettern absieht) nur einen einzigen Treffer: Bernhard Kochs Als Manuskript gedruckten Brief an den Verfasser der Schrift „Die Zerrissenheit des Gottesvolkes in der Gegenwart“ – ein weiterer Beitrag zum „Schriftenstreit“, den wir 2007 auf bruederbewegung.de veröffentlicht haben. Koch schreibt:
Interessant war mir übrigens die Bemerkung des Rezensenten vom „Wahrheitszeugen“, daß „Titus Blicker“ mit den Brüdern unangenehme Erfahrungen gemacht haben soll. Ob es dieser denn gar nicht weiß, welche Erfahrungen die Brüder mit dessen Pseudonymus gemacht haben? – Und nicht nur diese, sondern auch die Baptistengemeinde selbst, dessen Organ doch der „Wahrheitszeuge“ ist. Aber auch selbst diejenigen Brüder, mit denen M. Spr. – denn um diesen handelt es sich doch – noch später in Verbindung war, können ebenfalls nicht von angenehmen Erfahrungen sprechen. Dieser Mann hätte wirklich am allerwenigsten Ursache, gegen andere zu schreiben.7
„Titus Blicker“ war also offenbar ein Pseudonym von „M. Spr.“ Dahinter verbirgt sich mit großer Wahrscheinlichkeit Max Springer, dessen Name mit zwei weiteren „brüderkritischen“ Schriften in Verbindung steht:
Der Darbysmus. Seine Entstehung und Entwicklung. Ein Bild aus der christlichen Kirche der Gegenwart. Vohwinkel (Max Springer) o.J. [1904]
Über Springers Leben ist bisher außerordentlich wenig bekannt; nicht einmal seine Geburts- und Todesdaten und sein vollständiger Name (er publizierte unter den Initialen „W. C. M.“ Springer) liegen uns vor. Sicher ist, dass er bis 1892 den „Elberfelder Brüdern“ angehörte, sich dann aber auf die Seite Ravens stellte – vielleicht weniger aus Sympathie mit Ravens Lehren als aus Opposition gegen die „zentralistische“ Art und Weise, wie die kontinentaleuropäischen „Brüder“ 1890/91 auf zwei Elberfelder Konferenzen ihre Entscheidung gegen Raven gefällt hatten. So richtete er am 5. Juni 1892 in einem Rundschreiben „eine scharfe Anklage gegen die autoritäre Haltung einiger führender Brüder“.8 Als Rudolf Brockhaus (1856–1932) dreißig Jahre später seine Abhandlung über Raven und seine Lehren schrieb, hatte er vielleicht nicht zuletzt Max Springer im Sinn, wenn er über die deutschen Raven-Verteidiger von 1892/93 wie folgt urteilte:
bemerkenswerter Weise waren es fast ausnahmslos Elemente, die schon seit längerer Zeit unzufrieden und vielfach eine Beschwerde für die örtlichen Versammlungen gewesen waren und nun einen willkommenen Anlass fanden, ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu geben.9
Dass dieses Motiv tatsächlich eine Rolle spielte, wird von dem Raven-Bruder Alfred Wellershaus (1897–1968) bestätigt:
Es gab in Deutschland einige Brüder, die schon längere Zeit unter dem nebeneingeschlichenen Lehrbrüdertum Elberfelds […] geseufzt hatten, und diese Brüder gingen nicht mit Elberfeld, sondern blieben bei F. E. Raven und der Wahrheit Gottes.10
Max Springer gründete 1893 die erste Zeitschrift der deutschen Raven-Brüder, Worte der Gnade und Wahrheit. Bereits Ende 1894 scheint er jedoch auch mit den Raven-Brüdern in Konflikt geraten zu sein, denn Raven schrieb am 17. Dezember 1894 an Thomas Henry Reynolds (1830–1930):
I am quite pained to hear about Springer and am quite in sympathy with your appeal.11
Etwa 1896 wandte Springer sich dann offenbar ganz von der Brüderbewegung ab; die Worte der Gnade und Wahrheit wurden 1897 von Christian Schatz (1869–1947) übernommen. Nach dem oben zitierten Hinweis Bernhard Kochs muss Springer sich eine Zeitlang zu den Baptisten gehalten haben; wen Koch mit „d[en]jenigen Brüder[n]“ meint, „mit denen M. Spr. […] noch später in Verbindung war“, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit feststellen. 1909 veröffentlichte Springer die Broschüre Der Weg zur schriftgemäßen Heiligung: Hingabe und Hindernisse (Mülheim/Ruhr, Evangelisches Vereinshaus), was möglicherweise auf eine Nähe zur Heiligungsbewegung hindeutet. Laut Ekkehard Hirschfeld war er um 1910 ein „wichtiger Mitarbeiter“ von Arthur Heinrich Großmann (1879–1958), der in Berlin eine freie, unabhängige „Christliche Gemeinschaft“ leitete.12 In deren Partnergemeinde in Posen hielt Springer Anfang 1910 eine Vortragsreihe, deren Thema noch durchaus „brüdertypisch“ klang:
Die Zeitschrift Auf der Warte, in der diese Anzeige und zwei Jahre später auch die „Titus-Blicker“-Artikelserie erschienen,13 wurde von Gustav Ihloff (1854–1938) und seinem Schwiegersohn Karl Möbius (1878–1962) in Neumünster/Holstein herausgegeben und stand der Gemeinschaftsbewegung nahe.
Nach diesen Veröffentlichungen verliert sich Springers Spur. Das wechselvolle Leben dieses Mannes, der sich vom überzeugten „Darbysten“ zum scharfen „Antidarbysten“ wandelte (man fühlt sich an F. W. Bernsteins legendären Zweizeiler erinnert: „Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche“), wäre zweifellos ein lohnendes Forschungsthema!
Die Artikelserie
Auf die Artikelserie „Ist der Darbysmus, was er vorgibt zu sein?“ wurde ich zuerst von Hartmut Wahl, einem geschätzten Kollegen aus dem „Arbeitskreis Geschichte der Brüderbewegung“, aufmerksam gemacht; er hatte im Archiv der Lippischen Landeskirche in Detmold eine handschriftliche Abschrift davon entdeckt. Auf der Suche nach der Originalveröffentlichung wandte ich mich ans Archiv der Evangelischen Allianz in Bad Blankenburg, wo vom Jahrgang 1912 der Warte allerdings nur ein einziges Heft vorhanden ist; immerhin konnte mir Archivar Werner Beyer aber zwei Antworten auf Leserbriefe aus dem Jahrgang 1913 zur Verfügung stellen. Die eigentliche Artikelserie erhielt ich schließlich über einen Dokumentlieferdienst von der Universitätsbibliothek Kiel. Seit heute ist sie auf bruederbewegung.de in zeichengetreuer Neuedition zugänglich.
Über die von „Titus Blicker“ geäußerte Kritik an der „Versammlung“ mag man geteilter Meinung sein; neben manchem Berechtigten finden sich in den Artikeln auch einige eher zweifelhafte Behauptungen. Interessanter sind die historischen Hinweise, die „Blicker“ hier und da einstreut. Gleich im ersten Satz heißt es:
„Die Versammlung“ ist in Deutschland in vier scharf getrennten Gruppen vertreten und eifrig tätig.14
An welche vier Gruppen „Blicker“ dabei denkt, erläutert er in Teil 2 der Serie:
Wenn die Schüler Darbys in Deutschland bisher auch nur in vier verschiedenen Lagern vertreten sind (ein großes und drei kleinere), die alle unter sich gut organisiert sind und ihre regelmäßig wiederkehrende Konferenz haben (die Elberfelder in Dillenburg, Elberfeld und Berlin; die Ravensche [englische] in Berlin und Düsseldorf; die Neudarbysten [open Brethern] in Homburg bei Wiesbaden; von der kleinsten mit etwa 20 kleinen Versammlungen ist uns der Konferenzort nicht bekannt) …15
Demnach zählt „Blicker“ auch die Offenen Brüder zu den „Schülern Darbys“; bei der vierten, offenbar noch recht neuen Gruppe dürfte es sich um die Glanton-Brüder handeln (deren Geschichte in Deutschland noch weitgehend unerforscht ist16).
Aufschlussreich ist auch die folgende Bemerkung über Georg von Viebahn (1840–1915), den Springer einige Jahre zuvor noch recht scharf angegriffen hatte:17
Viele Gläubige nehmen an, „die Versammlung“ sei nicht mehr so rigoros wie früher, wie es die Tätigkeit und Freiheit des Herrn v. V. beweise. Das bißchen evangelische Freiheit genießt selbst dieser warmherzige, treue Herr nur unter kleinlich nörgelndem Widerspruch.18
Seine eigene frühere Zugehörigkeit zu den „Brüdern“ lässt der Autor nur an einer einzigen Stelle durchblicken:
Schreiber hörte vor dreißig Jahren den tüchtigen Schriftausleger C. Brockhaus (gest. 9. 5. 1899) in einer großen Versammlung reden über den Auftrag und Wert, über die Verantwortung und Rechte eines Bruders, der da lehrt.19
Die Replik
1913 erschienen in Auf der Warte zwei Nachträge zu „Titus Blickers“ Artikelserie, ein redaktioneller und einer von „Blicker“ selbst (ebenfalls in der Neuedition auf bruederbewegung.de enthalten). Beide sind an „Kaufmann A. Mann-Hildesheim“ gerichtet, der einen Offenen Brief an die Redaktion geschrieben und diesen anscheinend auch sonst breit gestreut hatte. Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit handelt es sich dabei um den Glanton-Bruder August Mann, der in Hildesheim u.a. als Verleger wirkte (so gab er 1909 und 1921 das Liederbuch Geistliche Lieder und Gesänge heraus20). Ein wesentlicher Teil des Offenen Briefes muss aus „persönlichen Verdächtigungen gegen den Verfasser“21 (also Blicker bzw. Springer) bestanden haben, den Mann „mit einem sittlichen Makel offen behafte[te]“ und „als einen abgefallenen Schüler Darbys hart brandmark[te]“22 – Vorwürfe, auf die „Blicker“ in seiner Antwort aber nicht einging:
Das sind häßliche Ausführungen, darauf antwortet man nicht! Mit solchem Geist streitet man nicht (1. Kor. 11, 16; Phil. 4, 8).23
Leider liegt mir dieser Offene Brief bislang nicht vor; sollte ein Leser ihn besitzen und mir eine Kopie zugänglich machen können, wäre ich dafür dankbar!