Alle Beiträge von Michael Schneider

Brief von Julius Anton von Poseck an Theophil Wilms

poseck
Julius Anton von Poseck

August Jung erwähnt in seiner Poseck-Biografie1 mehrmals einen Brief, den Julius Anton von Poseck (1816–1896) zusammen mit seiner Broschüre Christus oder Park-Street (1882) an Theophil Wilms (1832–1896), den Gründer der Freien evangelischen Gemeinde Düsseldorf, gesandt hatte. Beide Dokumente, Broschüre und Brief, gelangten später in die Bibliothek des Predigerseminars des Bundes Freier evangelischer Gemeinden (heute Theologisches Seminar Ewersbach), von wo sie eines Tages unter ungeklärten Umständen verschwanden. Als Jung sein Buch schrieb, befanden sie sich im Privatarchiv eines namentlich genannten Sammlers.2 Inzwischen ist dieser verstorben, und der größte Teil seines brüdergeschichtlichen Archivs wurde nach Nordirland verkauft. Es ist also davon auszugehen, dass die beiden Dokumente jetzt dort lagern.

Von der Broschüre wurde, als sie noch in Deutschland war, eine Fotokopie angefertigt, auf der links neben dem Titelblatt auch die letzte Seite des Briefes zu sehen ist. Diese Fotokopie lag August Jung vor, und von ihr zitierte er einen längeren Abschnitt (S. 134). Der größte Teil des Briefes (23 von 24 Seiten) war der Forschung jedoch unbekannt und unzugänglich, und daran dürfte sich auch durch den Verkauf nach Nordirland nichts geändert haben.

Umso größer war meine Überraschung, als mir neulich ein alter Bruder eine vollständige maschinengeschriebene Abschrift eben dieses Briefes gab, die er beim Aufräumen gefunden hatte! Es handelt sich um einen Durchschlag (es müssen also noch weitere Exemplare existiert haben), vermutlich aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wegen seiner Seltenheit habe ich das Dokument sofort digital ediert und stelle es nun auf bruederbewegung.de zum Download zur Verfügung.

Interessanterweise entspricht der Brief nicht ganz den Erwartungen, die man aufgrund der Darstellung bei August Jung an ihn haben könnte. Denn obwohl er der Broschüre Christus oder Park-Street beigelegt war, handelt er von einem völlig anderen Thema: von der Bethesda-Trennung bzw. den Offenen Brüdern. Theophil Wilms stand mit dem Offenen Bruder Friedrich Wilhelm Baedeker in Kontakt (der auch an der Gründung der FeG Düsseldorf beteiligt war), und Poseck meinte ihn (Wilms) eindringlich vor den Offenen Brüdern warnen zu müssen. Dazu zitierte bzw. übersetzte er ausführlich aus den OB-kritischen Schriften The Brethren (commonly so-called) von Andrew Miller und Is There Not a Cause? von Alexander Craven Ord und nannte abschreckende Beispiele aus seiner eigenen Erfahrung. Sein Hauptvorwurf lautete, dass die Offenen Brüder die Irrlehren Newtons nicht ausreichend verurteilt hätten und sie immer noch duldeten, ja teilweise sogar selbst verträten.

Was auch immer man von diesem Standpunkt halten mag – einige Behauptungen August Jungs müssen wohl korrigiert oder zumindest modifiziert werden. Ich denke da an folgende:

nachdem dieser [Wilms] ihn [Poseck] noch anfangs 1882 in London besucht hatte.3

Für diese Aussage nennt Jung keinen Beleg; nach dem Brief stellt sich die Situation anders dar. Wilms hatte Poseck brieflich um ein Exemplar der Schrift Christus oder Park-Street gebeten; diese erschien frühestens im September 1882. Zu dieser Zeit war Wilms dem Verfasser aber noch „persönlich unbekannt“, deshalb bat Poseck ihn, zuerst seinen „religiösen Standpunkt und Verbindung“ angeben, was Wilms auch tat. Die Antwort stellte Poseck zufrieden, aber dann verlegte er Wilms’ Brief und vergaß seinen Namen, sodass er ihm erst mit großer Verspätung antworten konnte – sein Brief muss nach dem 8. Mai 1883 geschrieben worden sein, denn er erwähnt den „kürzlich entschlafenen A. Miller“. Eine persönliche Begegnung Wilms’ mit Poseck Anfang 1882 in London ist daher wohl eher unwahrscheinlich.

so tadelt v. Poseck ihn [Darby] und seine Anhänger als solche, die mit „einem engen Herzen auf dem engen Pfade wandeln“ […]. Somit kämpft er an zwei Fronten: Gegen eine sektiererische Enge derer in Park Street […]4

Es ist nicht sicher, dass Poseck mit dem zitierten Satz auf Darby abzielt. Darby und Park-Street kommen in dem ganzen Brief nicht vor.

Gleichwohl kam er [Poseck] öfter als früher zurück nach Deutschland und verwirklichte sein neues, brüderliches Programm dahingehend, dass er in jene freistehenden Kreise ging, die von dem weit bekannten „Offenen Bruder“ Friedrich Wilhelm Baedeker (1823–1906) geprägt waren. […] Im Einzelnen handelt es sich darum, dass durch die Wirksamkeit Baedekers einzelne Gemeinden im Westen Deutschlands entstanden waren, die durch die „Open Brethren“ in England geprägt waren.5

Bedenkt man Posecks zurückhaltendes Urteil über Baedeker und sein vernichtendes Urteil über die Offenen Brüder, erscheint es eher zweifelhaft, ob er die beschriebenen Kreise wirklich regelmäßig aufgesucht und sich dort wohlgefühlt hat. Immerhin verfolgte sein Brief von 1883 ausdrücklich das Ziel, sowohl Wilms als auch Baedeker „zur Befreiung von einer Gemeinschaft [zu] dienen“, „die nach meiner innersten Überzeugung nicht zur Ehre Gottes ist und der Sie sowohl wie er, wie ich gerne glauben möchte, bisher nur aus Mangel an genauerer oder vielleicht wegen vorenthaltener Kenntnis des wahren Tatbestandes angehört haben“.


Die frühen „Brüder“ und der Calvinismus

Mark R. Stevenson untersucht in seinem Artikel “Early Brethren Leaders and the Question of Calvinism” (Brethren Historical Review 6 [2010], S. 2–33) die Haltung der frühen „Brüder“ zum Calvinismus und kommt zu folgendem Schluss (Hervorhebungen durch mich):

Our study has shown that soteriological Calvinism was a firm conviction among the prominent leaders of the early Brethren movement. They were strict Calvinists who rejected the extremes of both high and hyper-Calvinism, and although they were not preoccupied with the doctrines of grace, neither were they afraid to profess their allegiance to those doctrines as precious truths of the faith. With Mackintosh we see a new attitude emerging. Although he accepted the basic tenets of Calvinism, he eschewed the Calvinist label not only to distance himself from the abuses of hyper-Calvinism that were common in his day, but also in an attempt to reject the wider Reformed system of theology which contradicted important Brethren distinctives. Mackintosh’s attitude is a logical outgrowth of the development of Brethren ideals, but later writers would abandon all vestiges of Calvinism, perhaps taking Mackintosh’s attitude to its logical conclusion. Be that as it may, it should now be obvious that the spirit of antagonism toward Calvinism that currently runs through the movement is, for better or worse, a departure from its origins.

Wichtig scheint mir hier der Hinweis, dass es nur um “soteriological Calvinism” geht, also um die „fünf Punkte“, und nicht um andere calvinistische Lehren wie z.B. Bundestheologie, „Kirche von Adam an“, Gültigkeit des Gesetzes usw. Aber auch bei den „fünf Punkten“ muss man sich fragen, ob die noch im Werden begriffene „Brüdertheologie“ der allerersten Jahre unbedingt als Vorbild für heute gelten muss. Von Darby z.B. werden fast nur Zitate aus der frühesten Zeit in Oxford angeführt; aus seiner Spätzeit kommen nur die bekannten Äußerungen zum freien Willen zur Sprache (inkl. Kontroverse mit Moody). Stevensons Einschätzung

In Darby’s voluminous literary output, he does not manifest a fixation on Calvinist doctrines. He did defend them when necessary, but for Darby those doctrines seemed to be settled; his attention was focused more on developing issues related to ecclesiology and eschatology.

scheint mir eine interessegeleitete Verharmlosung der Unterschiede zu sein, stehen doch gerade Darbys Ekklesiologie und Eschatologie in klarem Widerspruch zum Calvinismus.

Neu- und Wiederveröffentlichungen: Lenz, Liese, Beattie

mueller
Georg Müller

(1) An der Kansas State University wurde soeben eine Dissertation über Georg Müller abgeschlossen (wahrscheinlich die erste größere wissenschaftliche Arbeit über Müller überhaupt). Sie ist als Volltext online abrufbar:

Darin Duane Lenz: “Strengthening the Faith of the Children of God”: Pietism, Print, and Prayer in the Making of a World Evangelical Hero, George Müller of Bristol (1805–1898)

(2) Andreas Lieses interessanter Aufsatz „Taufverständnisse in der Brüderbewegung“ (Zeitschrift für Theologie und Gemeinde 2007) ist seit kurzem online.

(3) David J. Beatties Klassiker Brethren: The Story of a Great Recovery (Kilmarnock 1939, antiquarisch oft nur für dreistellige Beträge erhältlich) gibt es seit letztem Jahr als Faksimile-Nachdruck.

John Nelson Darby – ein Fundamentalist?

John Nelson Darby gilt heute vielen – auch unter seinen Verehrern – als einer der Väter, wenn nicht als der Vater des modernen protestantischen „Fundamentalismus“.6 Dabei wird häufig übersehen, dass er auf manchen Gebieten erstaunlich „unfundamentalistisch“ und tolerant dachte. Zwei davon möchte ich hier vorstellen.

Länge der Schöpfungstage
darby
John Nelson Darby

Im heutigen Junge-Erde-Kreationismus ist die Länge der Schöpfungstage nicht verhandelbar: Es muss sich um „gewöhnliche Tage“ à 24 Stunden gehandelt haben, alles andere wäre Bibelkritik. Darby sah dies wesentlich gelassener. Einerseits schreibt er in Hints on the Book of Genesis (CW 19:57, Übersetzung von mir):

Ich selbst glaube, dass es sechs Tage von je vierundzwanzig Stunden waren, denn ich habe keinen biblischen Grund dagegen.

Andererseits lässt er im Second Dialogue on the Essays and Reviews erkennen, dass er auch mit abweichenden Auffassungen kein grundsätzliches Problem hatte (CW 9:104f.):

Ich habe keine Meinung und keinen moralischen Einwand dagegen, die Tage als ausgedehnte Perioden aufzufassen, aber es erscheint mir ein wenig gezwungen/gekünstelt.

„Ein wenig gezwungen/gekünstelt“ (somewhat forced) – im Vergleich zum Vorwurf der Irrlehre oder Bibelkritik nimmt sich dieses Urteil doch recht milde aus. (Allerdings waren die frühen „Brüder“ als Vertreter der „Lückentheorie“ ja ohnehin keine Junge-Erde-Kreationisten im modernen Sinne.)

Quellen im Pentateuch

Viele „fundamentalistische“ Bibelleser sind überzeugt, dass Mose der Pentateuch vom ersten bis zum letzten Buchstaben direkt von Gott offenbart wurde (vielleicht mit Ausnahme des letzten Kapitels, das Moses Tod schildert). Auch dafür hätte Darby seine Hand nicht ins Feuer gelegt. Die in der Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts aufkommende Unterscheidung zwischen „jahwistischen“ und „elohistischen“ Teilen lehnte er zwar mit Recht als “stupid theory” ab, aber die Existenz von Quellen an sich stellte für ihn kein Problem dar, wie er im Second Dialogue on the Essays and Reviews deutlich macht (CW 9:88):

Ich hätte keine Schwierigkeit damit, zwei, zwanzig oder zwanzigtausend Dokumente [im Pentateuch] anzunehmen, vorausgesetzt, dass ich Gottes Bericht über die Ereignisse darin finde. Menschliche Vermittlung kann ich in jedem Maße zugestehen, vorausgesetzt, dass ich göttliche Sicherheit und göttliche Absicht [darin] finde.

Noch pointierter drückt er es in The Irrationalism of Infidelity aus (CW 6:183):

Es ist mir völlig gleichgültig, ob Mose fünfhundert Dokumente benutzt hat, solange das Ergebnis exakt, vollkommen und vollständig das ausdrückt, was Gott mir mitteilen wollte.

Darby besteht also nicht auf der einheitlichen Autorschaft Moses, sondern erklärt die ganze Frage letztlich für irrelevant; maßgebend für ihn ist, dass die Endgestalt des Textes Gottes autoritatives und zuverlässiges Wort ist. An der überlegenen Ironie, mit der er die Sache behandelt (“twenty thousand documents”), sollte man sich heute vielleicht ein Beispiel nehmen.