Kategorie-Archiv: Deutschland

Neues über Max Springer (2): Der Allversöhnungslehrer

In meinem Blogeintrag „Eine wenig bekannte Artikelserie von ‚Titus Blicker‘“ wies ich bereits darauf hin, dass Max Springer in Ekkehard Hirschfelds Dissertation über den methodistischen Theologen Ernst Ferdinand Ströter (1846–1922) erwähnt wird. Laut Hirschfeld war Springer nämlich ein „wichtiger Mitarbeiter“ des von Ströter beeinflussten Predigers Heinrich Großmann (1879–1958), der in Berlin ab 1908 eine unabhängige „Christliche Gemeinschaft“ leitete.1

Heinrich Großmann

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Heinrich Großmann (1879–1958) mit seinen Kindern Helene und Hellmuth

Zur Einordnung zitiere ich hier zunächst das vollständige „Biogramm“ Großmanns aus dem Anhang von Hirschfelds Dissertation:

Arthur Heinrich Großmann, geb. 8.7.1879 in Danzig, gest. 29.9.1958 in Berlin. Kaufmännische Ausbildung und Tätigkeit, 1897 Bekehrung, 1899 Beginn evangelistischer Tätigkeit in Pommern mit eigenem Missionszelt (Evangelisation Immanuel), 1908 Gründung der ‚Christlichen Gemeinschaft‘ in Berlin in Kooperation mit eine[r] Gemeinschaft in Posen, 1910 Aufgabe der Zeltmission, 1916 Beitritt der Gemeinde zu den Baptisten, 1923–1929 Evangelist in den USA, 1931 Umzug der Gemeinde in die Hasenheide, 1941 Austritt der Gemeinde aus dem Bund der Baptisten. Evangelist, Prediger und Gemeindeleiter, früh ein Gegner der Pfingstbewegung, Autor zahlreicher Traktate und Schriften, 1908–1939 Herausgeber der Zeitschrift Forschet in der Schrift, später Der schmale Weg.2

Wann Max Springer zum Mitarbeiter Großmanns wurde, lässt sich anhand der vorliegenden Quellen zumindest ungefähr bestimmen. Im November 1909 meldete er sich bei Echoes of Service noch aus Charlottenburg,3 also wohl aus der Gemeinde Julius Rohrbachs (1852–1935) in der Krummen Straße. Vom 30. Januar bis 6. Februar 1910 hielt er dann eine Vortragsreihe über „Gottes Erlösungsplan von Zeitalter zu Zeitalter (illustriert an einer großen Karte)“ in der „Christlichen Gemeinschaft“ in Posen, Seecktstraße 6 – dabei dürfte es sich bereits um Großmanns Partnergemeinde gehandelt haben:

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Auf der Warte 7 (1910), Heft 3, S. 4

Ein Jahr später druckte Echoes of Service den letzten Bericht von bzw. über Springer ab:

Herr Max Springer wird ermutigt in der Arbeit, die er kürzlich in Berlin begonnen hat, und er schreibt auch in tiefer Dankbarkeit von einer Konferenz, die unlängst in Posen stattfand (einst die Hauptstadt Polens) und an der er gemeinsam mit anderen, uns unbekannten Dienern Gottes teilnahm. Er sagt: „Der Geist Gottes hatte durchgehend die Leitung, und die Wahrheit, die den Gläubigen vorgestellt wurde, war lehrreich, auferbauend und nahrhaft für die Seelen. Wir waren in Frieden zusammen, auch wenn viele Fragen aufkamen und behandelt wurden.“4

Danach kommt der Name Max Springer in Echoes of Service nicht mehr vor. Es ist anzunehmen, dass er sich um die Jahreswende 1910/11 – vielleicht schon mit seinem Umzug nach Berlin5 – von den Offenen Brüdern löste und mit Großmann zusammenzuarbeiten begann; im Juni 1911 erschien jedenfalls bereits ein von beiden gemeinsam verfasster Artikel in Großmanns Zeitschrift Forschet in der Schrift.6

Großmann – ein „Darbyst“?

Großmanns Theologie war, so Hirschfeld,

stark von Ströter beeinflusst und enthielt darbystische Elemente bis hin zur denominationellen Selbstständigkeit der Berliner Gemeinschaft; dennoch wollte sich Großmann nicht als Darbyst oder Neudarbyst verstanden wissen.7

Wir stoßen hier auf eine Doppeldeutigkeit des Wortes Darbysmus, die sich durch die gesamte Literatur der damaligen Zeit zieht. Großmann und Springer bezeichneten damit die Brüderbewegung und ihre gemeindlichen Strukturen und konnten sich daher mit Recht davon distanzieren:

Wir brauchen die Bezeichnung „Darbysmus“ nicht als Schimpfwort, sondern nur, um eine bestimmte Richtung, die eben auch eine Partei ist, zu bezeichnen. […] Wir wollen keine „Darbysten“ sein oder werden, auch keine „Neudarbysten“, wie man angefangen hat uns zu nennen. […] Wir sind grundsätzlich dagegen, daß von einer „Zentrale“ aus, oder von „maßgebenden“ Brüdern eine Herrschaft über die einzelnen Gemeinden ausgeübt wird. Wir halten es für sündhaft und unbrüderlich, wenn ein Bruder in die Lokal-Gemeinde eines anderen Ortes hineinreden will. […] Leider hat es in unseren Kreisen solche darbystisch angehauchten Brüder gegeben, die dieses versuchten; sie sind aber ermahnt worden, und wenn sie ihre darbystische Unart nicht ließen, der Gemeinde so bezeichnet, daß sie keinen Schaden anrichten konnten.8

Andere Autoren verwendeten das Wort Darbysmus dagegen als Sammelbegriff für bestimmte Lehrauffassungen, die als typisch für Darby oder die Brüderbewegung galten, aber durchaus auch außerhalb davon anzutreffen sein konnten. Ernst Bunke (1866–1944), Leiter der Berliner Stadtmission, nannte 1903 z.B. folgende fünf „Bestandteile des darbystischen Sauerteigs“, die sich seiner Ansicht nach auch in der Gemeinschaftsbewegung breitmachten:

[1] Die Absonderung von der Kirche, zumal bei der Abendmahlsfeier, und der Wunsch, die Brautgemeinde in Vollkommenheit darzustellen, [2] die Unterschätzung der Sünde und die Ueberschätzung des eigenen Gnadenstandes, [3] die schwärmerische Beschäftigung mit den letzten Dingen, [4] die geschichtslose Anschauung von der heiligen Schrift und [5] die Verachtung der kirchengeschichtlichen Lehren des heiligen Geistes – […] das alles spiegelt sich in Gemeinschaftskreisen nur zu oft wieder.9

Mit dem dritten Punkt meinte er speziell den „Glaube[n] an die Entrückung der Gläubigen vor dem Kommen des Herrn zum Gericht“.10 Diese „darbystische Anschauung“ einer „prätribulatorischen Entrückung“ teilte auch Großmann, wie Hirschfeld mehrmals betont,11 und für sie machte er sich „noch Anfang der 1920er Jahre“ stark, nachdem sie in den Gemeinschaftskreisen unter Beschuss geraten war.12 Ohne jeden Zweifel nämlich war Großmann – wie Ströter – Dispensationalist, und tatsächlich hat man den Eindruck, dass das Wort Darbysmus im damaligen Kontext oft nichts anderes als „Dispensationalismus“ bedeutete.13

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Ernst Ferdinand Ströter (1846–1922)

Ströters Variante des Dispensationalismus würde man heute wohl als Ultradispensationalismus bezeichnen; so sah er wie Ethelbert William Bullinger (1837–1913) in der „Braut“ nicht die Gemeinde, sondern Israel,14 betrachtete den Taufbefehl von Mt 28,19 als für das Gemeindezeitalter nicht gültig15 und vertrat möglicherweise eine Auswahlentrückung.16 Der erstgenannten Ansicht stimmte auch Großmann zu,17 der zweiten wohl nicht.18 Zur Allversöhnungslehre, die Ströter ab 1909 verkündigte19 und für die er heute noch am bekanntesten ist, hielt Großmann lange Zeit ebenfalls Distanz; erst die Begegnung mit dem deutsch­amerikanischen Bibelübersetzer Adolph Ernst Knoch (1874–1965) während seines Amerikaaufenthalts 1923–29 scheint ihn zum Umdenken bewogen zu haben,20 und ab 1937 vertrat auch er diese Lehre öffentlich.21 Sie gehört bis heute zu den Grundüberzeugungen der von Großmann gegründeten Berliner Gemeinde.22

Großmann und Springer

Zurück zu Max Springer. Was genau ihn um die Jahreswende 1910/11 veranlasste, sich von den Offenen Brüdern zu trennen und sich Heinrich Großmann anzuschließen (ohne allerdings Mitglied in dessen Gemeinde zu werden23), geht aus den bislang vorliegenden Quellen nicht eindeutig hervor – sowohl in der Struktur als auch in der Lehre war die Gemeinde Großmanns den damaligen Offenen Brüdergemeinden ja durchaus ähnlich. Nahm Springer an den allmählich entstehenden überörtlichen Strukturen der Offenen Brüder Anstoß, weil sie ihn an die der Geschlossenen Brüder erinnerten?24 Störte ihn die ungebrochene Allianzbegeisterung der Offenen Brüder? Er selbst war von der Allianz offensichtlich desillusioniert, wie aus dem gemeinsam mit Großmann verfassten Artikel „Freie Knechte, nicht freie Herren“ hervorgeht:

Wie manche rühmen sich, daß sie auf „Allianzboden (?)“ stehen – welch einen Wert das haben soll, ist unerklärlich – ohne der Schriftwahrheit von der Einheit des Leibes Christi auch nur im geringsten näher zu kommen. Konferenzen können da zweifelsohne viel helfen, aber es müßten wirklich Konferenzen zum Konferieren, Aussprechen und Beraten heiliger, ernster Wahrheiten sein und nicht Glaubensversammlungen, wo einige wenige Brüder ihre Gedanken über an und für sich wichtige Schriftwahrheiten äußern.25

Gab es bereits lehrmäßige Differenzen zwischen Springer und den Offenen Brüdern, die eine Trennung auch von ihrer Seite aus erforderlich machten? Hatte Springer sich schon für die Sonderlehren Ströters geöffnet – oder für die Knochs? Fest steht jedenfalls, dass er 1912 eine eigene Zeitschrift gründete, also offenbar meinte, etwas Eigenes zu sagen zu haben, etwas, das er auch in Großmanns Zeitschrift nicht unterbringen konnte. Der Titel – Freiheit und Leben – erinnert auffallend an ein Schweizer Evangelisationsblatt der Offenen Brüder namens Leben und Freiheit (die deutschsprachige Ausgabe von Vie et Liberté, herausgegeben von Samuel Squire [† 1946] in Lausanne), aber das könnte auch Zufall sein. Der (zeitweilige?) Untertitel Missionsblatt der Freien Brüdergemeinde Bethanien gibt derzeit noch Rätsel auf – gründete Springer also eine eigene Gemeinde? Wenn ja, wo? Leider ist diese Zeitschrift extrem selten (die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig besitzt lediglich sechs verstreute Hefte aus den Jahren 1914–17, die Bayerische Staatsbibliothek München ein einziges Heft mit Beiblatt aus dem Jahr 1916,26 ansonsten sind in öffentlichen Bibliotheken keine Bestände nachgewiesen), sodass ich dieser Spur bisher nicht nachgehen konnte.

Springer und Knoch

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Adolph Ernst Knoch (1874–1965)

Spätestens Mitte der 1920er Jahre – also über zehn Jahre vor Großmann – verkündigte Springer öffentlich die Allversöhnungslehre im Sinne Knochs. Unsearchable Riches, Knochs seit 1909 in Los Angeles erscheinende Zeitschrift, wies im Januar 1926 auf Vorträge von „Prediger Springer“ in Berlin hin und kommentierte:

Die große Wahrheit von der Allversöhnung hat wenigstens einen Zeugen in dieser großen Millionenstadt. Auch in anderen Teilen Deutschlands gibt es Hinweise auf ein wiedererwachtes Interesse.27

Im Mai 1929 berichtete Knoch von Springers Zeitschrift:

Wir freuen uns, den Empfang von Freiheit und Leben zu bestätigen, einer deutschen Publikation, die von Prediger M. Springer aus Berlin herausgegeben wird, dessen Adresse sich unter den Ankündigungen auf dem Umschlag befindet. Sie enthält eine Anzahl guter Artikel über Äonen und Allversöhnung. Wir sind dankbar zu sehen, dass diese Wahrheiten ein wenig von der Anerkennung erhalten, die sie verdienen.28

Ein Jahr später hieß es:

Eine deutsche Übersetzung von „What is Death“ ist von unserem Freund Max Springer, Berlin-Wilmersdorf, Güntzelstraße 29 herausgegeben worden. Sie trägt den Titel „Der Tod, was ist er?“ Wir haben einen großen Vorrat und hoffen, dass unsere deutschen Freunde großzügig davon Gebrauch machen werden. Wir senden gerne jedem in den Vereinigten Staaten kostenlos eine unserer deutschen Broschüren zu, um auf unsere wachsende Liste von Literatur in dieser Sprache aufmerksam zu machen.29

In der Broschüre What is Death? lehrte Knoch, dass der Mensch nach dem Tod nicht weiterlebe, sondern bis zur Auferstehung in einem Zustand des Nichtbewusstseins „schlafe“; man wird davon ausgehen können, dass der Übersetzer Springer diese Auffassung ebenfalls vertrat.30

Knoch in Deutschland

Im Sommer 1931 hielt sich Knoch auf dem Weg nach Palästina mehrere Wochen in Deutschland auf und traf dabei auch Springer. In diesem Zusammenhang kommen einige interessante biografische Einzelheiten über Springer zur Sprache:

In Berlin wurde ich von Prediger Max Springer und meinem alten Freund, dem Chiropraktiker Lehmann, empfangen, der einst meinen Griechischkurs in Los Angeles besucht hatte. Er beherbergte mich während meines Aufenthalts in der deutschen Hauptstadt. Am Abend nach meiner Ankunft besuchten wir die regelmäßige Mittwochabendklasse in der Nassauischen Straße 56, wo ich zu meiner Überraschung sofort aufgefordert wurde zu sprechen; Prediger Springer dolmetschte. Es wurde ein Plan zum Besuch verschiedener Teile Deutschlands mit diesem furchtlosen Mann Gottes als Führer und Dolmetscher aufgestellt. […] Am Sonntag wurde morgens das Mahl des Herrn eingenommen, nachmittags eine Nachbarschaftsklasse31 besucht und abends eine Ansprache an eine große Zuhörerschaft in dem schönen neuen Gebäude von Dr. Großmanns Gemeinde32 gehalten. Da Prediger Springer erkältet war, dolmetschte Gräfin Kanitz33 in allen drei Zusammenkünften. […]

Die Arbeit von Bruder Springer hat einen erschütternden Schlag erlitten. Ein Tornado hat die Ernten seines Altenheims vernichtet, sodass er nicht in der Lage ist, eine Hypothek von $ 3000 auf ein Anwesen, das mindestens $ 25.000 wert ist, zurückzuzahlen. Es scheint, als würde er es verlieren, nur weil er nicht die Mittel hat, einen so geringen Bruchteil des Wertes zu begleichen. Da fast jeder in Not ist, besteht wenig Hoffnung auf menschliche Hilfe. Deutschland befindet sich in einer äußerst bemitleidenswerten Lage. Nach außen geben sich die Leute stolz, aber ihre Taschen sind leer.34

Springer war um diese Zeit also offenbar Besitzer eines Altenheims, dem ein landwirtschaftlicher Betrieb angeschlossen war; genauere Informationen darüber liegen mir augenblicklich noch nicht vor. Interessant wäre auch zu erfahren, ob es sich bei der Gemeinde in der Nassauischen Straße 56 um Springers „Freie Brüdergemeinde Bethanien“ handelte; die Nähe zu seiner Wohnung in der Güntzelstraße 29 (etwa 350 Meter entfernt, wenn die heutige Hausnummerierung auch damals schon gültig war) könnte dafür sprechen. Allerdings befand sich in der Nassauischen Straße 56 zeitweise auch eine „Station“ der seit 1891 existierenden Baptistengemeinde „Bethania“ (!) in Moabit, Emdener Straße 15 (etwa 5 km nördlich gelegen), die genau um diese Zeit an ihrem Hauptstandort ein Alten- und Pflegeheim namens „Bethel“ einrichtete.35 Ob hier irgendein Zusammenhang besteht, vermag ich derzeit noch nicht zu sagen; dass Springer mit seinen inzwischen doch recht unorthodoxen Lehrauffassungen und Verbindungen regulärer Baptist war, erscheint mir eher zweifelhaft.

ur_1931_402Der nächste Absatz in Knochs Bericht ist brüdergeschichtlich von großem Interesse:

Das Wochenende wurde in Niederschelden im Siegerland unter ehemaligen Exklusiven Brüdern verbracht. Wegen der drückenden Hitze fuhren wir die ganze Nacht mit dem Zug und wurden in Siegen von Bruder Wilhelm Jäger36 empfangen, der uns während unseres Aufenthalts beherbergte. Am Samstag wurden zwei Bibelvorträge gehalten, am Sonntagmorgen das Mahl des Herrn eingenommen, am Nachmittag und Abend Ansprachen gehalten. Ein anschauliches Beispiel für die Zersplitterung der „Brüder“ bot die Tatsache, dass eine einzige Familie in mehrere Teile gespalten war, von denen ein Teil zu diesem und ein anderer zu jenem Zweig gehörte; einige waren ganz ausgestoßen. Lasst uns dafür beten, dass die wahre Grundlage der Gemeinschaft – der Wandel, nicht die Lehre – von ihnen angenommen wird und diese Trennungen geheilt werden. Manche von ihnen schienen überzeugt zu sein, dass die „Brüder“ in dieser Hinsicht von der Schrift abgewichen sind und ihre herzzerreißende Uneinigkeit und Sektiererei darauf zurückzuführen ist.37

Über die Versammlung in Niederschelden finden sich in Band 2 von Gerhard Jordys Brüdergeschichte einige Hinweise. Sie hatte sich geweigert, „einen deutlichen Trennungsstrich gegenüber Wilhelm Brockhaus zu ziehen“38 (gemeint ist der Ersteller der Elberfelder Bibelkonkordanz [1857–1936], der die Allversöhnungslehre angenommen hatte), und war deshalb 1926 aus dem Kreis der Elberfelder Versammlungen ausgeschlossen worden. Dass sie mit Springer und Knoch in Kontakt stand, beweist, dass es nicht nur um „persönliche Freundschaft mit dem Ausgeschlossenen“39 (Wilhelm Brockhaus) ging, sondern auch um klare Sympathien für seine Lehre.

Knoch fährt fort:

Nach einem Besuch in Elberfeld fuhren wir nach Mülheim und besuchten Bruder Peter Fabrizius. Später überquerten wir den Rhein nach Köln, wo ein interessiertes Publikum einer Erläuterung der konkordanten Methode zuhörte. Am nächsten Morgen fuhren wir nach Düsseldorf, geleitet von Bruder Schultz, der einst zu den Führern der deutschen Internationalen Bibelforscher-Vereinigung40 gehörte, aber heute ein begeisterter Arbeiter für die Wahrheiten ist, die wir lehren. Da Bruder Springer krank war, fuhr er zum Haus seiner Tochter in Düsseldorf. […] Im Hospiz „Pilgerheim“, einem geeigneten Ort für einen Pilger auf dem Weg ins Heilige Land, waren wir höchst bequem untergebracht. Zwei Zusammenkünfte wurden hier abgehalten. Die erste warf ein schwieriges Problem auf. Da Bruder Springer krank war, hatte ich keinen Dolmetscher! Im Publikum saßen viele Lehrer und Wissenschaftler. Aber ich musste meinen Stolz überwinden und in gebrochenem Deutsch losstammeln. Ich dachte auf Englisch, übersetzte es ins Deutsche, so gut ich konnte, und es gelang mir, mich mit Hilfe eines freundlichen und mitfühlenden Publikums verständlich zu machen, das mir oft mit Wörtern aushalf, an die ich mich nicht erinnern konnte. Am nächsten Abend fühlte sich Bruder Springer gut genug, um seinen Platz einzunehmen. Ich werde nie die freundliche Rücksichtnahme vergessen, die mir im Pilgerheim und von den Gläubigen in Düsseldorf entgegengebracht wurde.41

So weit die Auszüge aus Knochs Bericht. Knoch reiste weiter nach Palästina, kehrte aber 1932 wieder nach Deutschland zurück, um Sigrid von Kanitz zu heiraten und sich gemeinsam mit mehreren Mitstreitern der Erarbeitung einer Konkordanten Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche zu widmen (die englische Ausgabe war bereits seit 1914 in Fortsetzungen erschienen).

Ausklang

Im März 1932 wird Max Springer nochmals in Unsearchable Riches erwähnt:

Da wir42 selbst von rein deutschem Blut sind und ein wenig von der Sprache kennen, sehnen wir uns seit vielen Jahren danach, die uns anvertrauten großen Wahrheiten auch im Land unserer Väter bekannt zu machen. Dies geschah teilweise durch die Veröffentlichung von Artikeln im Prophetischen Wort,43 durch die Schriften und den Dienst von Schädel,44 Czerwinski,45 Dick,46 Springer und anderen und in den letzten Jahren vor allem durch [die Zeitschrift] Der Überwinder, herausgegeben von Freiin Wally von Bissing47 und Gräfin Sigrid von Kanitz, die nun als Zweig des Concordant Publishing Concern48 mit uns verbunden sind und Form und Namen ihrer Zeitschrift geändert haben, um mit den englischen Unsearchable Riches übereinzustimmen.49

ur_1932_355Bereits ein halbes Jahr später musste Knoch jedoch Springers Tod melden:

IN MEMORIAM

Die Arbeit in Deutschland hat einen schweren Verlust erlitten durch den Tod von Prediger Max Springer im reifen Alter von 74 Jahren. Während seines frühen Dienstes war er mit den sogenannten „Plymouth-Brüdern“ verbunden, entkam aber vor langer Zeit ihren sektiererischen Fesseln und betrieb eine unabhängige Arbeit für den Herrn. Er trat standhaft für die Wahrheit ein, die ihm anvertraut war, auch wenn ihn dies teuer zu stehen kam. Bei unserem ersten Besuch in Deutschland war er unser Vertreter und Dolmetscher. Ein kraftvoller, geistlich gesinnter Redner. Viel Unglück, Krankheit und Leid begleiteten seine späteren Jahre, aber sein Glaube wankte nicht. Auf Wiedersehen! – A. E. K.50

Ein genaues Todesdatum fehlt leider; da der Nachruf aber in der Septemberausgabe 1932 erschien, dürfte Springer im Sommer 1932 verstorben sein. Sein Geburtsjahr lässt sich aufgrund des Todesalters auf 1858 datieren. Mit dem „Unglück“ und „Leid“ in seinen „späteren Jahren“ sind vermutlich u.a. die wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Altenheim gemeint.

Damit war ein bewegtes, arbeits- und abwechslungsreiches Leben zu Ende gegangen. Wo Springers geistliche Wurzeln lagen, wissen wir nicht, aber von den Elberfelder Brüdern über die Raven-Brüder und die Offenen Brüder bis hin zu den freien Kreisen um Großmann und Knoch hatte er mindestens vier gemeindliche Stationen durchlaufen, für die er sich jeweils in Wort und Schrift streitbar eingesetzt hatte. Unter den „Brüdern“ dürfte er nach 1910 weitgehend vergessen worden sein – die beiden letzten Jahrzehnte seines Lebens lagen jedenfalls bisher völlig im Dunkeln und konnten hier vielleicht erstmals ein klein wenig erhellt werden. Für weitere Hinweise bin ich dankbar!


Neues über Max Springer (1): Der Offene Bruder

Als ich im April 2017 in diesem Blog Max Springers Artikelserie „Ist der Darbysmus, was er vorgibt zu sein?“ (1912) vorstellte, schrieb ich über den Autor:

Über Springers Leben ist bisher außerordentlich wenig bekannt; nicht einmal seine Geburts- und Todesdaten und sein vollständiger Name (er publizierte unter den Initialen „W. C. M.“ Springer) liegen uns vor. Sicher ist, dass er bis 1892 den „Elberfelder Brüdern“ angehörte, sich dann aber auf die Seite Ravens stellte – vielleicht weniger aus Sympathie mit Ravens Lehren als aus Opposition gegen die „zentralistische“ Art und Weise, wie die kontinentaleuropäischen „Brüder“ 1890/91 auf zwei Elberfelder Konferenzen ihre Entscheidung gegen Raven gefällt hatten. So richtete er am 5. Juni 1892 in einem Rundschreiben „eine scharfe Anklage gegen die autoritäre Haltung einiger führender Brüder“.1 […]

Max Springer gründete 1893 die erste Zeitschrift der deutschen Raven-Brüder, Worte der Gnade und Wahrheit. Bereits Ende 1894 scheint er jedoch auch mit den Raven-Brüdern in Konflikt geraten zu sein, denn Raven schrieb am 17. Dezember 1894 an Thomas Henry Reynolds (1830–1930): “I am quite pained to hear about Springer and am quite in sympathy with your appeal.”2 Etwa 1896 wandte Springer sich dann offenbar ganz von der Brüderbewegung ab; die Worte der Gnade und Wahrheit wurden 1897 von Christian Schatz (1869–1947) übernommen.

In den letzten Wochen war es mir möglich, das Dunkel um Springers Leben nach 1896 ein wenig zu erhellen. Dazu trug zunächst die Veröffentlichung der 47 Bände Echoes of Service bei, über die ich in meinem letzten Blogeintrag berichtete – denn ab 1898 begegnete den Lesern dieser Zeitschrift der Name Max Springer in großer Regelmäßigkeit!3 Springer wandte sich also nach seiner Trennung von den Raven-Brüdern durchaus noch nicht von der Brüderbewegung ab, sondern er war in den folgenden Jahren eine der wichtigsten Kontaktpersonen der Offenen Brüder in Deutschland.

Versammlungen im Rheinland

springer_eos1898Erstmals erwähnt wird Springer im zweiten Septemberheft 1898 in einem Bericht Joseph W. Jordans,4 aus dem hervorzugehen scheint, dass sich im Rheinland unter Springers Einfluss bereits mehrere Versammlungen von den Geschlossenen (oder Raven-) Brüdern gelöst hatten bzw. dabei waren, sich zu lösen:5

Wir waren erfreut, im Rheinland eine Anzahl von Gemeinden zu finden, die im Namen des Herrn versammelt waren, und konnten einige davon besuchen und Zusammenkünfte abhalten, nämlich in Elberfeld und Barmen sowie in Vohwinkel, wo wir den Sonntag verbrachten. Es gibt in diesem Teil Deutschlands viele, die zum Volk Gottes gehören, und manche von ihnen sehnen sich danach, von menschlicher Knechtschaft frei zu sein und die Freiheit zu genießen, mit der der Herr uns freimacht. Ich möchte die Kinder Gottes bitten, für die Arbeit in diesem Teil Deutschlands zu beten und dass die Hände unseres Bruders Max Springer in seiner Arbeit für den Herrn gestärkt werden mögen.6

Offenbar dieselben Versammlungen besuchte der Singapurmissionar Alexander Grant Anfang 1899:

Im Rheinland fand Mr. Grant […] kleine Versammlungen, ruhig, fast bis zur Trägheit, mit äußerster Hochachtung vor der Autorität der Schrift, und doch scheinen kaum Seelen gewonnen zu werden. Dennoch gab es offensichtliche Anzeichen wahrer Gottesfurcht. Unser Bruder suchte ihnen die Wahrheit vorzustellen, dass die Aufgabe des Dieners Gehorsam ist und nicht bloß die Ausführung von „Grundsätzen“.7

Im Frühjahr 1899 kam der deutsch-englische Judenmissionar Max Isaac Reich ins Rheinland und besuchte gemeinsam mit Max Springer („der sich immer mehr von seinem Beruf freimachen kann, um am Wort zu dienen“8) die Versammlungen in Vohwinkel (Springers Wohnort), Elberfeld, Mettmann und Wald:

In vielen Herzen ist ein wirkliches Sehnen, dem in Johannes 17 ausgedrückten Wunsch unseres Herrn Jesus „auf dass sie alle eins seien“ ein Stück weit nachzukommen. Nicht die bloße Einheitlichkeit einer kirchlichen Körperschaft, sondern die lebendige Einheit in der Kraft göttlichen Lebens, die Christus zum Mittelpunkt und Gegenstand hat.9

Auch in den folgenden Jahren statteten englische Offene Brüder dem Rheinland immer wieder Besuche ab (und wurden häufig von Springer übersetzt): Im Mai 1900 nahmen Reich und der angehende Österreichmissionar Frederick Butcher an einer Konferenz in Vohwinkel teil,10 im Juni 1900 kam Edmund Hamer Broadbent nach Vohwinkel, Düsseldorf und Krefeld,11 im August 1901 Echoes-Mitherausgeber William Henry Bennet in Begleitung von Reich und eventuell wieder Broadbent nach Köln, Vohwinkel, Barmen und Düsseldorf,12 im Februar 1904 Belgienmissionar William J. Nock nach Vohwinkel, Velbert und Neviges13 und im August 1904 wiederum Bennet nach Solingen, Vohwinkel und Velbert.14

Der Evangelist

springer_eos1900Springer selbst betätigte sich ab 1900 zunehmend als Evangelist, zunächst in Vohwinkel und Umgebung,15 bald aber auch darüber hinaus – mit sehr erfreulichen Resultaten:

  • Im Mai 1904 konnte er von jeweils vierzehntägigen Evangelisationen in Bochum (40–50 Bekehrungen) und Werden (70–80 Bekehrungen) sowie einem Evangelisationsnachmittag in Langerfeld berichten,16 im November 1904 von einer Evangelisation in Mülheim.17
  • Ende 1905 bis Anfang 1906 hielt Springer mehrere gut besuchte Evangelisationen in Mülheim, Vohwinkel und Oberhausen ab: „Es gibt einen tiefen Seelenhunger, der das Werk des Herrn selbst ist. […] Gottes Gnade besucht Deutschland. Oh, mögen sich Herzen dafür öffnen!“18
  • Im März 1906 folgte eine weitere zweiwöchige Evangelisation in Oberhausen,19 im Mai/Juni 1906 eine dritte, zu der jeden Abend 300–500 Personen kamen; über 90 bekehrten sich, „und ich hoffe, dass der Herr einige dahin führen wird, sich einfach zu seinem Namen hin zu versammeln“.20
  • Im Juli 1906 predigte Springer in Holten (heute ein Stadtteil von Oberhausen-Sterkrade): „Ich hatte jeden Tag zwei Zusammenkünfte und fühlte mich sehr glücklich unter den lieben Brüdern dort, die in der Wahrheit sehr gute Fortschritte machen.“21

Bereits 1904 hatte Springer auch Missionsreisen ins Ausland zu unternehmen begonnen; so evangelisierte er im Herbst 1904 sechs Wochen lang in Siebenbürgen, Bukarest und Budapest,22 Anfang 1905 erneut in Siebenbürgen,23 im Herbst 1905 fünf Wochen lang in Biel (Schweiz) und danach abermals in Siebenbürgen und Budapest,24 im Februar/März 1906 in Ungarn25 und im Herbst 1906 in Kroatien und Ungarn.26

Ab 1907 verlagerte er seinen Lebensmittelpunkt vom Rheinland zunehmend in Richtung Berlin, wo er in zunächst halbjährlichen Abständen mehrwöchige Vortragsreihen hielt, bevor er sich Ende 1910 dauerhaft dort niederließ:27

  • Im Frühjahr 1907 veranstaltete er sechs Wochen lang abends Evangelisationen und nachmittags Zusammenkünfte für Christen „aus allen Benennungen“, die „ein Sehnen nach der Wahrheit zeigten und ein tiefes Verlangen, den Herrn besser zu kennen“.28
  • Im Herbst 1907 fand eine fünfwöchige Vortragsreihe (vorwiegend für Christen) in Charlottenburg und Halensee mit zwei Veranstaltungen täglich statt. Abends erschienen oft 700–800 Zuhörer, an Sonntagen über 1000, und es kam zu etlichen Bekehrungen (allein am 20. Oktober z.B. 60–70).29
  • Im Frühjahr 1908 evangelisierte Springer im Osten Berlins („Ich spreche nicht gerne von Ergebnissen, aber der Meister hat mich sehr ermutigt, und ich hatte die Freude, viele zu Christus kommen zu sehen“) und hielt nachmittags Vorträge für Christen, die besonders bei Angehörigen der höheren Gesellschaftsschichten auf zunehmende Resonanz stießen:30 „An einem Ort im Zentrum Berlins hatte ein Komitee adliger Damen Zusammenkünfte um 11 Uhr morgens anberaumt, die von dieser Klasse gut besucht wurden, darunter auch einigen mit Verbindungen zu unserem Königshof. Der Herr öffnete die Herzen vieler für seine Wahrheit.“31
  • Im Herbst 1908 kam Springer erneut zu einer sechswöchigen Vortragsreihe mit zwei Vorträgen täglich nach Charlottenburg; die Zuhörerzahl wuchs zum Schluss auf 400–700 Personen.32
  • Im Herbst 1909 arbeitete Springer mehrere Monate in Berlin; zuerst hielt er täglich zwei Vorträge in Charlottenburg, ab November evangelisierte er im Osten der Stadt „im sozialistischen und anarchistischen Viertel“.33

springer_eos1906Springers Missionsreisen in die Ferne wurden während dieser Zeit fortgesetzt und verstärkt; so finden wir ihn im Sommer 1907 wieder in Siebenbürgen,34 im November 1907 auf der Insel Usedom,35 im April 1908 auf Schloss Schedlau in Schlesien (wo er auf Einladung von Graf Pückler neun Vorträge hielt),36 im Sommer 1908 in Lettland (u.a. in Riga und auf Schloss Kremon, wo er mit der Familie Lieven das Brot brach),37 im November 1908 in Herrnhut,38 im Januar 1909 in Königsberg,39 im Januar 1910 in Ungarn und eventuell Siebenbürgen40 und Ende 1910 in Polen.41

Anfang der 1910er Jahre kühlte seine Beziehung zu den Offenen Brüdern dann aber offensichtlich ab – sein letzter Bericht in Echoes of Service erschien im Januar 1911, und bereits ein Jahr später bezeichnete er die Offenen Brüder in seiner pseudonym erschienenen Artikelserie „Ist der Darbysmus, was er vorgibt zu sein?“ als „Neudarbysten“, die sich aus seiner Sicht offenbar nur wenig von den anderen „Schülern Darbys“ unterschieden.42 Welche gemeindliche Richtung er nun einschlug, möchte ich in einem zweiten Beitrag darstellen.


„Echoes of Service“ als Quelle für die Geschichte der deutschen Offenen Brüder

Ende April dieses Jahres stellte das Christian Brethren Archive die ersten 47 Jahrgänge von Echoes of Service, der wichtigsten Missionszeitschrift der englischen Offenen Brüder, ins Netz. Ich maß dieser Nachricht für mich zunächst keine große Bedeutung bei, da die Missionsgeschichte der Offenen Brüder mir bereits gut erforscht zu sein schien und auch nicht zu meinen zentralen Interessengebieten gehört. Aus Neugier schaute ich dann aber doch in einige Bände hinein – und stellte fest, dass von Anfang an fast jedes Jahr auch Berichte aus dem deutschsprachigen Raum abgedruckt wurden.

Entdeckungen

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Titelseite des ersten Jahrgangs (1872)

Erstaunlicherweise standen dabei insbesondere in den ersten Jahren (die Zeitschrift erschien ab 1872) Personen im Vordergrund, die in der bisherigen deutschsprachigen Geschichtsschreibung der Offenen Brüder praktisch unbekannt sind: Weder Karl Andreas noch Julius Rohrbach noch Carl Geier noch Gustavus Adolphus Eoll (um nur einige Beispiele zu nennen) kommen im hier einschlägigen Band 2 von Gerhard Jordys Brüderbewegung in Deutschland,1 in der Dissertation von Ulrich Bister2 oder in der älteren Darstellung von Walther Schwammkrug3 vor. Der einzige bekannte Name aus den frühen Jahren – neben den evangelistischen „Weltreisenden“ Georg Müller und Friedrich Wilhelm Baedeker – ist Jean Emil Leonhardt in Bad Homburg, aber auch hier hält Echoes of Service eine Überraschung bereit, die von der bisherigen Geschichtsschreibung abweicht und offenbar auch in Bad Homburg in Vergessenheit geraten ist: Als Gründungsjahr der dortigen Offenen Brüdergemeinde galt bislang immer 1887, weshalb auch 1947 das 60-jährige,4 1987 das 100-jährige5 und 2012 das 125-jährige Gemeindejubiläum gefeiert wurde; die Berichte Leonhardts in Echoes of Service belegen aber, dass das erste Brotbrechen in Bad Homburg bereits am 25. Juli 1886 stattfand6 – alle Jubiläen wurden also ein Jahr zu spät begangen!

Es handelt sich bei Echoes of Service demnach um eine erstklassige zeitgenössische Quelle über die Anfänge der deutschen Offenen Brüder, die trotz ihrer prinzipiellen Zugänglichkeit von der hiesigen Forschung bislang anscheinend völlig unbeachtet geblieben ist.7 Ich habe mir die Mühe gemacht, alle den deutschsprachigen Raum betreffenden Berichte aus den 47 Bänden der Jahre 1872–1918 zu extrahieren; seit heute stehen sie auf bruederbewegung.de als 187-seitige PDF-Datei zum Download zur Verfügung.

Die Zeitschrift

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Titelseite des ersten Heftes mit neuem Namen (1885)

Einige Hintergrundinformationen zur Zeitschrift mögen hier noch am Platze sein. Gegründet 1872 als The Missionary Echo, trug sie von 1885 bis 1969 den Namen Echoes of Service, unter dem sie heute noch am bekanntesten ist (ab 1970 lautete der Titel schlicht Echoes, seit 2018 Echoes International mission magazine). Herausgeber in den ersten Jahrzehnten waren Henry Groves (1872–1891), John Lindsay Maclean (1872–1906), William Henry Bennet (1891–1920), Robert Eugene Sparks (1894–1918), William Edwy Vine (1911–1949) und William Rhodes Lewis (1917–1963).8

Die Redaktion (die ab 1873 ihren Sitz in Bath hatte) fungierte von Anfang an auch als Sammel- und Weiterleitungsstelle für Spenden, sodass sich Echoes of Service im Laufe der Zeit zu einer Art Missionsgesellschaft entwickelte; 1886 stand man bereits mit ca. 100, 1909 mit ca. 600 Missionaren weltweit in Kontakt.9 Einen systematischen Überblick über die unterstützten Missionare bot das Jahresregister der Zeitschrift, das bereits ab dem 2. Jahrgang (1873) nicht mehr alphabetisch, sondern nach Kontinenten und Ländern geordnet war; ab 1883 wurden zusätzlich die Adressen der Missionare und (wenn bekannt) das Jahr des Beginns ihrer Tätigkeit angegeben.

Bis 1890 erschien die Zeitschrift monatlich, von 1891 bis 1917 zweimal monatlich und im letzten Kriegsjahr 1918 wieder monatlich. Die vom Christian Brethren Archive digitalisierten 47 Jahrgänge umfassen insgesamt genau 888 Hefte, von denen etwas über ein Drittel (306 Hefte) Berichte aus dem deutschsprachigen Raum enthalten.


100. Todestag von Jean Emil Leonhardt

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Jean Emil Leonhardt (1853–1918)

Heute vor 100 Jahren starb Jean Emil Leonhardt, der Gründer der Offenen Brüdergemeinde in Bad Homburg. Die Frankfurter Neue Presse (bzw. deren Regionalausgabe Taunus-Zeitung) gedenkt dieses Ereignisses durch eine zweiteilige Artikelserie der trotz ihrer 93 Jahre noch immer sehr rührigen Bad Homburger Stadthistorikerin Gerta Walsh, die bereits 2012 einen Artikel zum 125-jährigen Jubiläum der EFG Bad Homburg und 2014 zwei Artikel über die Aktivitäten Jean Emil Leonhardts und Friedrich Kleemanns im Ersten Weltkrieg verfasst hatte.

Die aktuelle Serie enthält einiges an bisher unbekannten Informationen:

  • Leonhardts genaues Geburtsdatum (25. Oktober 1853) wird hier meines Wissens zum ersten Mal veröffentlicht.
  • Laut Walsh erwarb Leonhardt 1883 die britische Staatsbürgerschaft und pendelte bis 1900 zwischen England und Deutschland hin und her (Letzteres erscheint mir allerdings etwas zweifelhaft, da ab 1886 kontinuierliche Gemeindeaktivitäten in Bad Homburg belegt sind, wie ich demnächst noch zu zeigen hoffe).
  • Aus der 1897 geschlossenen Ehe mit Ida Schneider gingen fünf Söhne und drei Töchter hervor.

Die von Walsh beschriebenen geschäftlichen Aktivitäten Leonhardts sind für Freunde der Bad Homburger Stadtgeschiche vielleicht interessanter als für Brüderhistoriker; Letztere werden allerdings den Schluss der Artikelserie zu würdigen wissen:

Am 11. Oktober 1917 musste er sich einer Operation unterziehen, deren Ausgang ungewiss war. Damals spürte er den „Schatten des Todes“. Zu Herzen gehend ist der Brief, den er am Vorabend dieses Tages seiner Frau und den Kindern schrieb. Darin spiegelte sich sein tiefes Gottvertrauen, und Leonhardt verband die Nachricht zugleich mit der Mahnung an seine Lieben, stets an die Mitmenschen zu denken, denen es im Leben nicht so gut ging wie ihm und seiner Familie. Hier fand er Worte, die seine Lebenshaltung ausdrückten: „Gedenke der Armen, der Waisen, der Brüder die in Noth sind und des ganzen Werkes des Herrn. Er hat uns so reichlich gesegnet, deshalb thue deine Hand weit auf und verschließe dein Herz nicht. Alles war und ist nur anvertrautes Gut. Ich wünsche keine Lobreden, keine Blumen.“

Diese Operation überlebte er, doch am 24. August 1918 starb Jean Emil Leonhardt nach langem Leiden und fand auf dem evangelischen Friedhof am Untertor seine letzte Ruhestätte.

Um „Lobreden“ geht es auch in diesem Blog nicht, aber eine sachliche Biografie dieses nur noch wenig bekannten Pioniers der deutschen Offenen Brüder würde sich sicher lohnen!

50. Todestag von Werner Heukelbach

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Werner Heukelbach (1898–1968)

Heute vor 50 Jahren starb in Gummersbach der wohl bekannteste Evangelist der deutschen Brüderbewegung, Werner Heukelbach. Durch das nach ihm benannte Missionswerk – in den 1960er Jahren angeblich das größte Schriftenmissionswerk Europas – ist sein Name auch heute noch weithin bekannt.

Über Heukelbachs Leben habe ich bereits vor Jahren einen Wikipedia-Artikel verfasst, sodass ich hier auf eine Kurzbiografie verzichte; auch das Biographisch-Bibliographische Kirchenlexikon (Bd. 2, 1990) enthält einen Artikel über ihn (an sich kostenpflichtig, aber per Wayback Machine noch gratis zugänglich).

Als Kuriosität sei noch ein Artikel im Nachrichtenmagazin Der Spiegel vom 23. September 1959 erwähnt, der – wenn auch im spöttisch-gehässigen Spiegel-Stil der damaligen Zeit verfasst und in Einzelheiten wohl nicht immer zuverlässig – interessante Einblicke in die zeitgenössische Rezeption Heukelbachs auch in kirchlichen und Allianzkreisen bietet.

Eine wenig bekannte Artikelserie von „Titus Blicker“

In seiner Broschüre Die Zerrissenheit des Gottesvolkes in der Gegenwart, einem Beitrag zum „Schriftenstreit“ zwischen den Freien evangelischen Gemeinden und den Geschlossenen Brüdern, schrieb der FeG-Prediger Gustav Nagel (1868–1944):

„Ich kenne,“ hat ein Kenner der „Versammlung“ gesagt, „eine gleichartige sicher funktionierende Organisation nur noch im deutschen Heere und im Jesuitenorden.“1

blicker40Wer dieser „Kenner der ‚Versammlung‘“ war, ist uns nicht überliefert; immerhin konnte jetzt aber die Quelle identifiziert werden, der Nagel dieses Zitat entnommen hatte. Es handelt sich um die vierteilige Artikelserie „Ist der Darbysmus, was er vorgibt zu sein?“ eines gewissen Titus Blicker, erschienen 1912 in der Zeitschrift Auf der Warte. Ein Blatt zur Förderung und Pflege der Reichgottesarbeit in allen Ländern. Gleich im ersten Teil schreibt Blicker:

Keine der lutherischen, auch keine der reformierten, der methodistischen, baptistischen oder irgend eine der unabhängigen Kirchen, ja selbst nicht einmal die römische kann so rasch und sicher ein Glied, einen Lehrenden exkommunizieren und für sie schadlos machen, wie der alte Darbysmus in seinen Bündnissen deutscher, englischer, französischer und anderer Zungen. Jeder Bund hat eine so fest gegliederte Organisation, daß ein Knecht Gottes, der sie von England und anderwärts her kennt, zum Schreiber sagte: Ich kenne eine gleichartige sicher funktionierende Organisation nur noch im deutschen Heere und im Jesuitenorden.2

Auch ein zweites Zitat Nagels – nur wenige Zeilen nach dem oben angeführten – stammt aus dem Artikel von Blicker:

Es ist keine Übertreibung, wenn jemand bei einer Erörterung dieser Fragen sagt: „Gewiß hat keine gläubige Gemeinschaft stärker das hierarchische System verneint und in allen diesbezüglichen Schriften bekämpft, als die darbystischen Gruppen, und gerade sie haben dieses System.“3

Im Original heißt es:

Gewiß hat keine evangelische Kirche, keine gläubige Gemeinschaft stärker das hierarchische System verneint und in allen seinen diesbezüglichen Schriften bekämpft, als die vielen darbystischen Gruppen, und gerade sie haben dieses System.4

Blickers Hauptthema, wie es sich in diesen Zitaten und auch bereits im Titel ausdrückt, ist die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der „Versammlung“: Während sie sich immerfort auf das Wort Gottes und die Leitung durch den Heiligen Geist berufe, folge sie in Wirklichkeit doch nur den Festlegungen Darbys:

Darbys Form und Art ward Sitte; die Sitte ward Gewohnheit; die Gewohnheit ward Natur; die Natur erzwang die Notwendigkeit, die unevangelische, unpaulinische Gesetzlichkeit!5

Diese kleinliche Nachahmung in so vielen ernsten Fragen steht Betern und ernsten Bibelchristen schlecht an, sonderlich aber solchen, die in allen Schriften in allen erdenklichen Tonarten behaupten, sie und sie allein richteten alles ein nach dem Worte Gottes, und bei ihnen stände alles unter der Leitung des Heiligen Geistes.6

Der Autor

Wer war Titus Blicker? Eine Google-Suche erbringt (wenn man von den Telefonnummern einiger nordamerikanischer Namensvettern absieht) nur einen einzigen Treffer: Bernhard Kochs Als Manuskript gedruckten Brief an den Verfasser der Schrift „Die Zerrissenheit des Gottesvolkes in der Gegenwart“ – ein weiterer Beitrag zum „Schriftenstreit“, den wir 2007 auf bruederbewegung.de veröffentlicht haben. Koch schreibt:

Interessant war mir übrigens die Bemerkung des Rezensenten vom „Wahrheitszeugen“, daß „Titus Blicker“ mit den Brüdern unangenehme Erfahrungen gemacht haben soll. Ob es dieser denn gar nicht weiß, welche Erfahrungen die Brüder mit dessen Pseudonymus gemacht haben? – Und nicht nur diese, sondern auch die Baptistengemeinde selbst, dessen Organ doch der „Wahrheitszeuge“ ist. Aber auch selbst diejenigen Brüder, mit denen M. Spr. – denn um diesen handelt es sich doch – noch später in Verbindung war, können ebenfalls nicht von angenehmen Erfahrungen sprechen. Dieser Mann hätte wirklich am allerwenigsten Ursache, gegen andere zu schreiben.7

„Titus Blicker“ war also offenbar ein Pseudonym von „M. Spr.“ Dahinter verbirgt sich mit großer Wahrscheinlichkeit Max Springer, dessen Name mit zwei weiteren „brüderkritischen“ Schriften in Verbindung steht:

Über Springers Leben ist bisher außerordentlich wenig bekannt; nicht einmal seine Geburts- und Todesdaten und sein vollständiger Name (er publizierte unter den Initialen „W. C. M.“ Springer) liegen uns vor. Sicher ist, dass er bis 1892 den „Elberfelder Brüdern“ angehörte, sich dann aber auf die Seite Ravens stellte – vielleicht weniger aus Sympathie mit Ravens Lehren als aus Opposition gegen die „zentralistische“ Art und Weise, wie die kontinentaleuropäischen „Brüder“ 1890/91 auf zwei Elberfelder Konferenzen ihre Entscheidung gegen Raven gefällt hatten. So richtete er am 5. Juni 1892 in einem Rundschreiben „eine scharfe Anklage gegen die autoritäre Haltung einiger führender Brüder“.8 Als Rudolf Brockhaus (1856–1932) dreißig Jahre später seine Abhandlung über Raven und seine Lehren schrieb, hatte er vielleicht nicht zuletzt Max Springer im Sinn, wenn er über die deutschen Raven-Verteidiger von 1892/93 wie folgt urteilte:

bemerkenswerter Weise waren es fast ausnahmslos Elemente, die schon seit längerer Zeit unzufrieden und vielfach eine Beschwerde für die örtlichen Versammlungen gewesen waren und nun einen willkommenen Anlass fanden, ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu geben.9

Dass dieses Motiv tatsächlich eine Rolle spielte, wird von dem Raven-Bruder Alfred Wellershaus (1897–1968) bestätigt:

Es gab in Deutschland einige Brüder, die schon längere Zeit unter dem nebeneingeschlichenen Lehrbrüdertum Elberfelds […] geseufzt hatten, und diese Brüder gingen nicht mit Elberfeld, sondern blieben bei F. E. Raven und der Wahrheit Gottes.10

Max Springer gründete 1893 die erste Zeitschrift der deutschen Raven-Brüder, Worte der Gnade und Wahrheit. Bereits Ende 1894 scheint er jedoch auch mit den Raven-Brüdern in Konflikt geraten zu sein, denn Raven schrieb am 17. Dezember 1894 an Thomas Henry Reynolds (1830–1930):

I am quite pained to hear about Springer and am quite in sympathy with your appeal.11

Etwa 1896 wandte Springer sich dann offenbar ganz von der Brüderbewegung ab; die Worte der Gnade und Wahrheit wurden 1897 von Christian Schatz (1869–1947) übernommen. Nach dem oben zitierten Hinweis Bernhard Kochs muss Springer sich eine Zeitlang zu den Baptisten gehalten haben; wen Koch mit „d[en]jenigen Brüder[n]“ meint, „mit denen M. Spr. […] noch später in Verbindung war“, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit feststellen. 1909 veröffentlichte Springer die Broschüre Der Weg zur schriftgemäßen Heiligung: Hingabe und Hindernisse (Mülheim/Ruhr, Evangelisches Vereinshaus), was möglicherweise auf eine Nähe zur Heiligungsbewegung hindeutet. Laut Ekkehard Hirschfeld war er um 1910 ein „wichtiger Mitarbeiter“ von Arthur Heinrich Großmann (1879–1958), der in Berlin eine freie, unabhängige „Christliche Gemeinschaft“ leitete.12 In deren Partnergemeinde in Posen hielt Springer Anfang 1910 eine Vortragsreihe, deren Thema noch durchaus „brüdertypisch“ klang:

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Auf der Warte 7 (1910), Heft 3, S. 4

Die Zeitschrift Auf der Warte, in der diese Anzeige und zwei Jahre später auch die „Titus-Blicker“-Artikelserie erschienen,13 wurde von Gustav Ihloff (1854–1938) und seinem Schwiegersohn Karl Möbius (1878–1962) in Neumünster/Holstein herausgegeben und stand der Gemeinschaftsbewegung nahe.

Nach diesen Veröffentlichungen verliert sich Springers Spur. Das wechselvolle Leben dieses Mannes, der sich vom überzeugten „Darbysten“ zum scharfen „Antidarbysten“ wandelte (man fühlt sich an F. W. Bernsteins legendären Zweizeiler erinnert: „Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche“), wäre zweifellos ein lohnendes Forschungsthema!

Die Artikelserie

Auf die Artikelserie „Ist der Darbysmus, was er vorgibt zu sein?“ wurde ich zuerst von Hartmut Wahl, einem geschätzten Kollegen aus dem „Arbeitskreis Geschichte der Brüderbewegung“, aufmerksam gemacht; er hatte im Archiv der Lippischen Landeskirche in Detmold eine handschriftliche Abschrift davon entdeckt. Auf der Suche nach der Originalveröffentlichung wandte ich mich ans Archiv der Evangelischen Allianz in Bad Blankenburg, wo vom Jahrgang 1912 der Warte allerdings nur ein einziges Heft vorhanden ist; immerhin konnte mir Archivar Werner Beyer aber zwei Antworten auf Leserbriefe aus dem Jahrgang 1913 zur Verfügung stellen. Die eigentliche Artikelserie erhielt ich schließlich über einen Dokumentlieferdienst von der Universitätsbibliothek Kiel. Seit heute ist sie auf bruederbewegung.de in zeichengetreuer Neuedition zugänglich.

Über die von „Titus Blicker“ geäußerte Kritik an der „Versammlung“ mag man geteilter Meinung sein; neben manchem Berechtigten finden sich in den Artikeln auch einige eher zweifelhafte Behauptungen. Interessanter sind die historischen Hinweise, die „Blicker“ hier und da einstreut. Gleich im ersten Satz heißt es:

„Die Versammlung“ ist in Deutschland in vier scharf getrennten Gruppen vertreten und eifrig tätig.14

An welche vier Gruppen „Blicker“ dabei denkt, erläutert er in Teil 2 der Serie:

Wenn die Schüler Darbys in Deutschland bisher auch nur in vier verschiedenen Lagern vertreten sind (ein großes und drei kleinere), die alle unter sich gut organisiert sind und ihre regelmäßig wiederkehrende Konferenz haben (die Elberfelder in Dillenburg, Elberfeld und Berlin; die Ravensche [englische] in Berlin und Düsseldorf; die Neudarbysten [open Brethern] in Homburg bei Wiesbaden; von der kleinsten mit etwa 20 kleinen Versammlungen ist uns der Konferenzort nicht bekannt) …15

Demnach zählt „Blicker“ auch die Offenen Brüder zu den „Schülern Darbys“; bei der vierten, offenbar noch recht neuen Gruppe dürfte es sich um die Glanton-Brüder handeln (deren Geschichte in Deutschland noch weitgehend unerforscht ist16).

Aufschlussreich ist auch die folgende Bemerkung über Georg von Viebahn (1840–1915), den Springer einige Jahre zuvor noch recht scharf angegriffen hatte:17

Viele Gläubige nehmen an, „die Versammlung“ sei nicht mehr so rigoros wie früher, wie es die Tätigkeit und Freiheit des Herrn v. V. beweise. Das bißchen evangelische Freiheit genießt selbst dieser warmherzige, treue Herr nur unter kleinlich nörgelndem Widerspruch.18

Seine eigene frühere Zugehörigkeit zu den „Brüdern“ lässt der Autor nur an einer einzigen Stelle durchblicken:

Schreiber hörte vor dreißig Jahren den tüchtigen Schriftausleger C. Brockhaus (gest. 9. 5. 1899) in einer großen Versammlung reden über den Auftrag und Wert, über die Verantwortung und Rechte eines Bruders, der da lehrt.19

Die Replik

1913 erschienen in Auf der Warte zwei Nachträge zu „Titus Blickers“ Artikelserie, ein redaktioneller und einer von „Blicker“ selbst (ebenfalls in der Neuedition auf bruederbewegung.de enthalten). Beide sind an „Kaufmann A. Mann-Hildesheim“ gerichtet, der einen Offenen Brief an die Redaktion geschrieben und diesen anscheinend auch sonst breit gestreut hatte. Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit handelt es sich dabei um den Glanton-Bruder August Mann, der in Hildesheim u.a. als Verleger wirkte (so gab er 1909 und 1921 das Liederbuch Geistliche Lieder und Gesänge heraus20). Ein wesentlicher Teil des Offenen Briefes muss aus „persönlichen Verdächtigungen gegen den Verfasser“21 (also Blicker bzw. Springer) bestanden haben, den Mann „mit einem sittlichen Makel offen behafte[te]“ und „als einen abgefallenen Schüler Darbys hart brandmark[te]“22 – Vorwürfe, auf die „Blicker“ in seiner Antwort aber nicht einging:

Das sind häßliche Ausführungen, darauf antwortet man nicht! Mit solchem Geist streitet man nicht (1. Kor. 11, 16; Phil. 4, 8).23

Leider liegt mir dieser Offene Brief bislang nicht vor; sollte ein Leser ihn besitzen und mir eine Kopie zugänglich machen können, wäre ich dafür dankbar!


200. Geburtstag von Heinrich Thorens

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Heinrich Thorens (1817–1864)

Heinrich Thorens war einer der Männer, die einen bedeutenden Beitrag zum Entstehen der Brüderversammlungen in Deutschland gegeben haben, ohne dabei jedoch persönlich besonders hervorzutreten.

So schrieb Paul Krumme 1990 in der Zeitschrift Die Wegweisung.1 Heinrich Thorens’ Geburtstag jährt sich heute zum 200. Mal;2 aus diesem Anlass soll Krummes kurzer Artikel, der meines Wissens die einzige in sich abgeschlossene Veröffentlichung über Thorens geblieben ist, hier vollständig wiedergegeben werden.

Er wurde 1817 als Sohn eines Gastwirts im Kanton Neuchâtel (französische Schweiz)3 geboren, lernte aber schon früh, auf der höheren Stadtschule in Biel, auch die deutsche Sprache.

Um das Jahr 1830 kamen während einer Erweckungsbewegung in der Westschweiz viele Menschen zum Glauben. Zu denen, die das Heil in dem Herrn Jesus fanden, gehörte auch Heinrich Thorens.

Durch John Nelson Darby, der Anfang der vierziger Jahre in der Schweiz weilte und wirkte, wurde Thorens mit der biblischen Lehre über Heilsgewißheit, Bedeutung der Versammlung/Gemeinde des Herrn, Nachfolge usw. bekannt. Als Folge davon trat er aus der Staatskirche aus.

Thorens wurde Musterzeichner. Um sich in diesem Beruf weiterzubilden, begab er sich um 1841/42 nach Lyon, dem Zentrum der französischen Seidenindustrie. Zu dieser Zeit hielt sich auch der etwa gleichaltrige Hermann Heinrich Grafe dort auf. Die beiden jungen Männer lernten sich kennen und schlossen Freundschaft. Thorens ging zu der kleinen Brüderversammmlung in Lyon, während sich Grafe der dortigen Freien Gemeinde anschloß.

Grafe hatte in Wuppertal-Barmen zusammen mit seinem Schwager eine Textilfirma, Grafe und Neviandt. Er stellte 1846 Heinrich Thorens als Musterzeichner ein. Mit ihm hatte er für seinen Betrieb einen fähigen und fleißigen Mitarbeiter bekommen, aber weit höhere Bedeutung sollte Thorens’ Übersiedlung nach Westdeutschland auf geistlichem Gebiet haben.

Da der junge Schweizer schon durch das Gedankengut der „Brüder“ geprägt war, besuchte er die gerade im Entstehen begriffenen Brüderversammlungen in Düsseldorf und Hilden. Bald hatte er enge Verbindung mit Julius Anton von Poseck und William H. Darby (einem Bruder John Nelson Darby’s) und lernte auch die „Lehrbrüder“ (zu denen auch Carl Brockhaus zählte) des „Evangelischen Brüdervereins“ kennen, der im Juli 1850 gegründet worden war. Bei regelmäßigen Zusammenkünften in den Wohnungen Grafe’s und C. Brockhaus’ konnte Thorens die ihm klargewordenen Grundsätze des Wortes Gottes weitergeben. Wie sehr er dadurch auch Carl Brockhaus beeinflußte, geht aus einem Schriftstück hervor, das dessen ältester Sohn Ernst verfaßte und in dem es heißt, daß „besonders Bruder Thorens“ dazu beitrug, daß das Verständnis seines Vaters über die Wahrheit, das Wesen der Versammlung Christi, ihre Einheit durch den Geist Gottes, ihre Verbindung mit dem Haupt droben und ihre himmlische Stellung wuchs.4

Aufgrund seiner Gesinnung und von Demut geprägten Haltung war Heinrich Thorens allgemein geschätzt. Er nutzte jede freie Zeit, um das Evangelium von dem Herrn Jesus zu verkündigen.

Er war es gewohnt, einen bedeutenden Teil seines Einkommens für mildtätige Zwecke und für die Arbeit im Werk des Herrn zur Verfügung zu stellen. Infolge dessen stand nach seinem frühen Tod im Jahre 18645 seine Familie fast mittellos da. Jedoch kamen sowohl die Firma Grafe und Neviandt als auch die Elberfelder Brüderversammlung für ihre Bedürfnisse auf.

In Heinrich Thorens sehen wir ein deutliches Beispiel dafür, wie wunderbar die Wege des Herrn verlaufen. Ein junger Mann wird in seiner Heimat – der Schweiz – mit biblischem Gedankengut vertraut, das Brüdern in England neu geschenkt worden war. In Frankreich lernt er einen Deutschen kennen, der ihn als Mitarbeiter in seine Firma nach Westdeutschland holt, und in diesem Raum kann er sein Schriftverständnis weitergeben und dadurch wesentliche Anstöße geben zu einer „Glaubensbewegung“, die sich bald über weite Teile Deutschlands erstrecken sollte. Gott plant im voraus jeden Schritt der Gläubigen und fügt alles so zusammen, daß es zum Bau und zur Auferbauung des wunderbaren Organismus des „Leibes des Christus“ beiträgt!

Einige weitere Einzelheiten aus Thorens’ Leben erfahren wir aus der Grafe-Biografie von Walther Hermes (die zweifellos auch Krummes Hauptquelle war):

Als einst ein Heimarbeiter eine fehlerhafte Webarbeit ablieferte und damit auffiel, schob dieser die Schuld auf den Musterzeichner, den er nicht zugegen glaubte. Thorens stand auf, sich zu rechtfertigen, unterdrückte aber plötzlich seine Rede und ging wortlos an sein Pult zurück. Als ihm in jenen unruhigen Zeiten auf der Ronsdorfer Landstraße einmal ein Wegelagerer Uhr und Geld abforderte, gab er dieses sogleich her, wies dann aber den Räuber ernst und liebevoll auf die Folgen seiner Tat hin, worauf ihm dieser, der wohl erst ein Anfänger in diesem bösen Handwerk war, beschämt beides zurückgab. Seine ganze freie Zeit widmete er dem Werk des Herrn, für den er in den Kreisen der Weber mit Wort und Schrift zu werben suchte, wobei er manche Arme und Kranke besuchte, deren es damals in den Auswirkungen der Cholerazeit viele gab.6

Am Rande sei noch erwähnt, dass die bekannte Schweizer Firma Thorens, die zuerst Musikdosen und andere Musikapparate, im 20. Jahrhundert aber vor allem hochwertige Plattenspieler herstellte, 1883 von Heinrich Thorens’ in Elberfeld geborenem Sohn Hermann (1856–1943) gegründet wurde.

150. Geburtstag von Franz Kaupp

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Franz Kaupp (1866–1945)

„Eine der wichtigsten Lehrautoritäten der ‚Christlichen Versammlung‘ in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Württemberger Franz Kaupp“ – dieser Einschätzung Volker Jordans1 wird man sicherlich zustimmen können. Kaupp, dessen Geburtstag sich heute zum 150. Mal jährt, stammte wie der gleichaltrige Otto Schröder aus einfachen Verhältnissen und hatte keine Möglichkeit, eine höhere Schule zu besuchen, eignete sich aber im Selbststudium so umfassende Kenntnisse der Bibel einschließlich ihrer Grundsprachen an, dass seinem Urteil in Auslegungsfragen größtes Gewicht beigemessen wurde2 – und das nicht nur in „geschlossenen“, sondern auch in „offenen“ Kreisen.

Tatsächlich erschienen die meisten schriftlichen Fragenbeantwortungen Kaupps nicht im Botschafter des Heils in Christo (das Christian Writings Archive verzeichnet hier nur wenige Artikel aus den Jahren 1934–37), sondern in den Handreichungen aus dem Worte Gottes, der bedeutendsten Zeitschrift der deutschen Offenen Brüder. Eine heimliche Sympathie für den „offenen“ Standpunkt kann daraus sicher nicht abgeleitet werden, wohl aber doch die Bereitschaft, über den „exklusiven“ Tellerrand hinauszublicken und mit (etwas) anders denkenden Christen zusammenzuarbeiten.

Kaupps gesammelte Fragenbeantwortungen wurden 1968 vom Ernst-Paulus-Verlag in Buchform veröffentlicht (²1972), eingeleitet durch ein kurzes Lebensbild, das Arend Remmers über weite Strecken wörtlich in sein Buch Gedenket eurer Führer (1983, ²1990) übernahm. Es bildet auch die Grundlage für Volker Jordans Kapitel über Kaupp, das ab heute als separate Datei auf bruederbewegung.de zur Verfügung steht.

Einige Artikel und Fragenbeantwortungen Kaupps sind auch einzeln online zugänglich:

 


200. Geburtstag von Philipp und Carl Richter

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Philipp Richter (1816–1914), gemalt von seinem Enkel Paul Feller

„Wer schreibt, der bleibt“, sagt ein Sprichwort. Das gilt in gewisser Weise auch für die Kirchengeschichte: Diener Gottes, die Schriften hinterlassen haben, bleiben der Nachwelt in der Regel besser und länger im Gedächtnis als solche, deren Dienst vorwiegend mündlicher Art war. In die letztere Kategorie fallen zweifellos die Dillenburger Zwillingsbrüder Philipp und Carl Richter, die zu den Gründervätern der Brüderbewegung im Dillkreis gehörten und viele Jahre als Evangelisten und Lehrer in ihrer Heimatregion und darüber hinaus aktiv waren. Ihr Geburtstag jährt sich heute zum 200. Mal.

Dabei sind die Informationen über Carl (oder Karl) noch spärlicher als die über Philipp, der immerhin bis 1914 lebte, also fast 100 Jahre alt wurde. In seinem 40. Todesjahr (1954) gelang es der Zeitschrift Die Botschaft noch, Zeitzeugenerinnerungen an ihn zu sammeln und zu einem Gedenkartikel zu verarbeiten; dieser wurde 2014 zu seinem 100. Todestag in orthografisch modernisierter, annotierter und illustrierter Form in Zeit & Schrift wiederabgedruckt. Die zeichengetreue Originalfassung ist seit heute auf bruederbewegung.de zu finden.

Wiederholt erwähnt werden die Brüder Richter auch in zwei Arbeiten von August Jung: im Artikel „Die Anfänge der Brüderbewegung im Dillkreis, besonders in Manderbach“, erschienen in der Festschrift 150 Jahre Christliche Versammlung Manderbach (2003), S. 24–37, und im gleichnamigen (aber nicht damit identischen) Festvortrag zum selben Anlass.

200. Geburtstag von Julius Anton von Poseck

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Julius Anton von Poseck (1816–1896)

Es gibt wohl kein Lied aus den Kreisen der Brüderbewegung, das in der Christenheit so bekannt geworden ist wie „Auf dem Lamm ruht meine Seele“. Die Website Liederdatenbank verzeichnet allein aus den letzten vier Jahrzehnten sieben Liederbücher verschiedenster Herkunft, in die es aufgenommen wurde – von den Gemeindeliedern der Baptisten und FeGs über Jesus unsere Freude vom Gnadauer Gemeinschaftsverband und Singt zu Gottes Ehre vom Blauen Kreuz bis hin zu Lied des Lebens von „Jugend mit einer Mission“. Tonaufnahmen von Doris Loh bis Helmut Jost, Übersetzungen ins Englische und Niederländische sowie ein Buchtitel von Jost Müller-Bohn sind weitere Zeugen seiner Popularität. Der Autor dieses „Klassikers“, mit vollem Namen Julius Anton Eugen Wilhelm von Poseck, wurde heute vor 200 Jahren im pommerschen Zirkwitz (heute Cerkwica in Polen) geboren.

Weniger bekannt ist, dass der seit über 150 Jahren gesungene Wortlaut durchaus nicht den ursprünglichen Vorstellungen des Dichters entspricht. Tatsächlich mussten sich alle Lieder Posecks – nach heutigem Kenntnisstand lassen sich nur noch fünf mit einiger Gewissheit ihm zuordnen1 – mehr oder weniger einschneidende Änderungen gefallen lassen, als sie in das „kanonische“ Liederbuch der deutschen „Brüder“, die von Carl Brockhaus herausgegebene Kleine Sammlung geistlicher Lieder, aufgenommen wurden. Ausgerechnet „Auf dem Lamm ruht meine Seele“ traf es dabei mit am härtesten: Von den eigentlich elf Strophen wurden sechs getilgt, die fünf beibehaltenen wurden umgeschrieben (besonders die letzte ist kaum noch wiederzuerkennen), und eine Strophe wurde (wahrscheinlich von Carl Brockhaus) neu hinzugedichtet.

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Titelseite der „Lieder für die Kinder Gottes“ (²1856)

Wie Poseck selbst sich seine Lieder vorgestellt hatte, ist uns durch das von ihm herausgegebene Liederbuch Lieder für die Kinder Gottes (2. Auflage, Hilden 18562) glücklicherweise noch bekannt. Auch wenn man manche der späteren Veränderungen durchaus als Verbesserungen empfinden mag – oder ist es nur eine Frage der Gewohnheit? –, sollen in diesem Gedenkartikel einmal die Originalfassungen zu ihrem Recht kommen – als kleine Reverenz an einen Bruder mit „nicht alltägliche[r] Dichtergabe“,3 der in Deutschland wegen seiner „Gelehrtheit“ nicht recht willkommen war und deshalb die zweite Hälfte seines Lebens in England verbrachte.4

Das Lied „Auf dem Lamm ruht meine Seele“ trug in Posecks Liedern für die Kinder Gottes die Nummer 91:5

Auf dem Lamm ruht meine Seele,
Schauet still dies Wunder an:
„Alle, alle meine Sünden
Durch Sein Opfer weggethan!“

Sel’ger Ruhort! Süßer Frieden,
Auf dem Lamme so zu ruhn!
Wo Gott Selber mit mir ruhet
Der ich Ihm versöhnet nun.

Hier fand Ruhe mein Gewissen;
Denn Sein Blut, es war der Quell,
Der mein Kleid von allen Sünden
Hat gewaschen weiß und hell.

Hier seh’ ich die Morgenröthe
Offen steht des Himmels Thor;
Meine Seele im Triumphe
Schwinget sich zu Gott empor.

Hier muß der Verkläger weichen;
Denn für mich ward Gottes Lamm
Einst zur Schlachtbank hingeführet,
Hat den Mund nicht aufgethan.

Seele, klammre Dich im Glauben
Fest an Deinen Heiland an.
Sieh, Er ist für Dich gestorben,
Daß Du lebest Ihm fortan.

Geh nach Weisheit zu dem Lamme;
Lern’ hier Gottes Sinn verstehn;
Lern’ des Vaters Herrlichkeiten,
Täglich neue Wunder sehn.

Tränke Dich aus diesen Quellen
Wahrer Demuth, Lieb’ und Gnad’.
Dann, o Seele, ruhst du sicher,
Wandelst sicher deinen Pfad.

Jesu, Deine Gnade leitet
Mich der sel’gen Wohnung zu,
Die dort in des Vaters Hause
Selber mir bereitet du.

Dann wird Dich mein Auge sehen,
Dessen Lieb’ ich hier geschmeckt,
Dessen Treu ich hier erfahren,
Der mir Gottes Herz entdeckt.

Wenn der Lohn von deinen Schmerzen:
Deine Gott erkaufte Schaar –
Bringt in Zions heil’ger Ruhe
Gotteslamm ihr Loblied dar.

Ähnlich starke Veränderungen wie „Auf dem Lamm ruht meine Seele“ erfuhr das Lied „Jesu, Quelle unsrer Freuden“ (Nr. 94): Es wurde von fünf auf zwei Strophen gekürzt, die nunmehr zweite Strophe wurde völlig umgedichtet, und die 2. und 4. Zeile wurden um jeweils zwei Silben verlängert:

Jesu, Quelle unsrer Freuden,
Trost in allem Leid!
Der Du Selber gingst durch Leiden
Ein zur Herrlichkeit.
Hier von unserm Pilgerlauf
Schauen wir zu Dir hinauf,
Rings umschränkt,
Hart bedrängt,
Stärke uns im Glaubensstreit.

Sieh, Dein Feind schlägt Deine Glieder
Mit gar großer Macht,
Glaubt, er hätte bald darnieder
Deinen Leib gebracht.
Aber seine Macht, sie raubt
Nicht dem Leib sein mächtig Haupt,
Das Du bist,
Jesus Christ,
Der vom Himmel uns bewacht.

All sein Toben und sein Wüthen,
Seine Ränk’ und List,
Sein Gewehr und Machtaufbieten
Doch vergebens ist.
Christi Leib bezwingt er nicht,
Christi Geist, den dämpft er nicht.
In uns ist
Jesus Christ
Mächt’ger, als der draußen ist.

Starkes Haupt der schwachen Glieder!
Aus der Herrlichkeit
Schaust Du auf die Deinen nieder,
Die für Dich im Streit.
All’ in jedem Ort und Land,
Groß und Klein sind Dir bekannt;
Jeden Schlag,
Spott und Schmach,
Fühlst Du als Dein eigen Leid.

Halt’ uns nah Dir alle Stunden,
Daß nicht, Jesu, wir
Sünd’gend Dich, o Haupt, verwunden,
Das geblutet hier.
Festen Schritt und brennend Licht!
Denn Du, Herr, verziehest nicht!
Bald nach Streit,
Kreuz und Leid,
Triumphirt die Braut mit Dir.

Kaum besser erging es dem Lied 77 „Hochgebenedeiter“ (der zugegebenermaßen etwas befremdliche Titel wurde in „Gott, mein treuer Leiter“ geändert): Fünf von acht Strophen gingen verloren, die übrigen wurden gründlich revidiert:

Hochgebenedeiter!
Deine Macht reicht weiter,
Als die Sonne scheint.
Du Selbst willst uns schützen,
Soll’n auf Dich uns stützen,
Unsichtbarer Freund!
Steh uns bei,
Im Glauben treu,
Trotz des Lebens Truggestalten
An Dir fest zu halten.

So im heil’gen Bunde
Bist Du jede Stunde
Uns, o Helfer, nah.
Nimm, was Du willst nehmen,
Es soll uns nicht grämen,
Denn Du liebst uns ja.
Reben, wir,
Im Weinstock, Dir,
Gib, daß wir trotz Sturmes Schalten
An Dir fest nur halten.

Wir sind in der Wüste,
Fern der Heimath Küste,
Müd’ und unterdrückt.
Doch zu allen Stunden
Wird in Dir gefunden
Ruh’, die uns erquickt.
Uns, verbannt
Im fremden Land,
Stärkest Du mit Segenswalten,
Wenn wir fest Dich halten.

Unsre frühern Träume,
Gleich wie leere Schäume,
Lassen wir zurück.
Was ist Erdenwonne?
Nebel vor der Sonne!
Der uns trübt den Blick.
Unsre Freud’
Und Sonn’ im Leid,
Strahlst und wärmst Du ohn’ Erkalten,
Wenn wir fest Dich halten.

Hoffnungen der Erde,
Freunde und Gefährte,
Schwinden wie ein Trug.
Und wenn sie uns fehlen,
Bist Du, Trost der Seelen,
Freund und Hoffnung g’nug.
Wenn uns blieb
Nicht Freund noch Lieb’,
Wird’s uns desto wen’ger spalten,
Wenn wir fest Dich halten.

Will es oft uns dünken,
Als ob wir versinken
In der Wüste Sand;
Sieh, eh’ wir es denken,
Zeigst Du, uns zu tränken,
Uns der Quelle Rand.
„Halte dich
Doch fest an Mich!“
Flüsterst Du mit Liebestönen,
Stillest unsre Thränen.

Glaub’ und Hoffnung müssen
Unter Kümmernissen
Hier ernähren sich.
Doch wir sind zufrieden,
Bitten nichts hienieden,
Brauchen nichts als Dich.
Ruhig still
In Gottes Will’,
Sanft ergeben in Dein Walten,
Sind, die fest Dich halten.

Grab und Satan schrecket
Uns nicht, denn uns wecket
Unser Gott einst auf.
Der den Tod bezwungen,
Uns durch Blut errungen,
Stärkt hier unsern Lauf.
Gläub’gem Muth
Weicht Jordan’s Fluth,
Muß vor unserm Fuß sich spalten,
Wenn wir fest Dich halten.

Vergleichsweise ungeschoren kam dagegen Lied 66 „O Gottes Sohn! Vor aller Zeit geboren!“ davon: Es verlor nur seine erste Strophe, blieb aber sonst gut erkennbar:

O Gottes Sohn!
Vor aller Zeit geboren!
Eh’ Erd’ und Himmel ward, aller Engel Preis!
Des Vaters Lust und Freud’,
Du spieltest vor Ihm allezeit.
Warst Weisheit Seiner Stärke;
Der Meister Seiner Werke.
Und solchen Himmel, solchen Gott,
Konntst Du verlassen Ihn?

O Gottes Lamm!
Für Sünder hier erwürget!
Die Erde, die Du schufst, ach, sie trug Dein Kreuz!
Was führte Dich herab
In Armuth, Fluch und Tod und Grab? –
Die Braut, die Dir gegeben
Dein Gott, mit Dir zu leben,
Mit Dir zu thronen königlich,
Sie zog hernieder Dich.

Gott und das Lamm, –
O Quelle aller Freuden! –
Ist unser, wir sind Sein, jetzt und ewiglich!
Die Braut hast Du erkauft,
Und sie mit Deinem Geist getauft.
Die Liebe zog Dich nieder!
Sie zieht zu Dir uns wieder.
Was wär’ der Himmel ohne Dich,
Und alle Herrlichkeit?

Komm, Jesu, komm!
Wir sehnen uns, zu schauen
Das Antlitz unsers Herrn, der uns Gott erkauft.
Der, Seines Vaters Bild,
Sein Herz und Seinen Himmel füllt.
Auf fremden Erdenwegen
Wir seufzen Dir entgegen,
Bis unser Loblied voll ertönt
Dem Lamm, das uns versöhnt.

Am geringfügigsten schließlich wurde in Lied 9 „Jesus kam hernieder“ (heute: „Herr, Du kamst hernieder“) eingegriffen:

Jesus kam hernieder,
Hat uns versöhnt;
Ging zum Vater wieder,
Ward am Thron gekrönt.
Sein Eigenthum
Sind wir, Gott zum Ruhm;
Sind durch Ihn vertreten
Dort im Heiligthum.
Ewige Gnade,
Mein Bruder Du!
O welch’ hohe Gabe,
Welch’ sel’ge Ruh!

Wir, die Deinen beten
Freimüthiglich,
Weil Du sie vertreten
Hohepriesterlich.
Dein Angesicht
Ist auch jetzt gericht’t
Auf die Brüder alle,
O Du läßt sie nicht.
Dein treues Lieben,
Dein Opfertod
Brachte uns den Frieden,
Du treuer Gott!

Stehe auf vom Throne,
Du Gotteslamm!
Nimm die Braut zum Lohne,
O mein Bräutigam!
Sie ist ja Dein;
Rufe bald sie heim!
In des Vaters Wohnung
Führ’ sie mit Dir ein.
An Deinem Herzen
Trifft sie kein Leid;
Nahen keine Schmerzen
In Ewigkeit.

Lebensbilder Julius Anton von Posecks auf dem aktuellen Stand der Forschung (seit 2002 liegt ja die Monografie von August Jung vor, die auch bereits in mehreren Punkten korrekturbedürftig ist) sind online leider nicht verfügbar. Ich verweise hier auf den Artikel von Arend Remmers aus Gedenket eurer Führer und auf die deutschsprachige Wikipedia, deren Poseck-Artikel ich mir demnächst einmal vornehmen werde.