Kategorie-Archiv: Geschlossene Brüder

Julius Anton von Poseck in britischen Zeitungen

Eine einzigartige Fundgrube für historisch Interessierte ist das British Newspaper Archive, in dem zurzeit 261 britische Zeitungen aus dem 18. bis 20. Jahrhundert mit zusammen über 8,5 Millionen Seiten digital zugänglich sind (allerdings kostenpflichtig). Ich habe dort in den letzten Wochen viele interessante (teilweise auch kuriose) Funde zur Brüdergeschichte gemacht, von denen ich hier einige mitteilen möchte. Ich beginne mit dem Leben Julius Anton von Posecks, der bekanntlich ab 1857 in England wohnte.

1. Ehefrau

August Jung schreibt in seiner Poseck-Biografie,1 der plausibelste Grund für Posecks Übersiedlung nach England sei „eine überaus liebliche Erscheinung“ gewesen: „Christiane Wilson, die seine Frau werden sollte“.2 Ihr Alter bei der Heirat 1857 gibt er mit 50 an; dass sie zwei Jahre später noch ein Kind zur Welt bringen konnte, sei daher „fast ein biologisches Wunder“ gewesen.3 Woher Jung den Namen und die Altersangabe hat, verrät er nicht; laut der Heiratsanzeige im Reading Mercury vom 18. Juli 1857 lautete ihr Nachname Davies und nicht Wilson:

1857-07-18 Reading Mercury 5
Reading Mercury, 18. Juli 1857, S. 5

Der Name Christiana Davies wird auch durch den England and Wales Marriage Registration Index 1837–1920 bestätigt. Die Bezeichnung „Mrs.“ im Reading Mercury deutet allerdings darauf hin, dass sie schon einmal verheiratet (und jetzt wahrscheinlich verwitwet) war. Vielleicht war Wilson ihr Mädchenname?

Noch seltsamer ist Jungs Altersangabe von 50 Jahren. Nach den bei FamilySearch zugänglichen genealogischen Datenbanken war Posecks Frau ganze 14 Jahre jünger: Erst bei der Volkszählung 1871 wird ihr Alter mit 50 angegeben, bei der Volkszählung 1881 folglich mit 60 und bei ihrem Tod 1896 mit 75 (ich sage „folglich“, aber nicht immer stimmen die verschiedenen Datenbanken so exakt überein!). Ihr Geburtsjahr dürfte demnach 1821 gewesen sein; damit war sie vier bis fünf Jahre jünger als ihr Mann und bei der Geburt ihres Kindes 1859 nicht 52, sondern 38 Jahre alt.

Ihr Tod wird im Londoner Standard vom 24. April 1896 gemeldet (ebenfalls mit der Altersangabe 75):

1896-04-24 The Standard 1 NA
The Standard, 24. April 1896, S. 1
2. Beruf

„Bis heute konnte nicht geklärt werden, welchen Beruf v. Poseck in London ausgeübt hat“, schreibt August Jung. „Noch kann man wählen zwischen Professor der Philosophie bzw. Philologie, Sprachlehrer oder Missionsprediger. Oder vermochte er etwa alles gleichzeitig zu sein? Bedenkt man, dass er in der Grenzstadt Saarbrücken zweisprachig aufgewachsen war, dass er als Gymnasiast Latein, Griechisch und Hebräisch gelernt, vielleicht sogar gelehrt hatte, dass er ein gutes Schulenglisch sprach und es in jahrelangem Umgang mit den ‚Brethren‘ entscheidend verbessert hatte, dann spricht alles für Sprachlehrer. Promoviert und habilitiert hat er sich zu keiner Zeit.“4

Dem Zeitungsbefund nach zu urteilen war Poseck tatsächlich „alles gleichzeitig“ (bis auf Philosophieprofessor). Das Wort „Sprachlehrer“ trifft seinen Brotberuf wohl am besten, aber er nannte sich auch „Professor“ – damals anscheinend keine geschützte Bezeichnung für einen Hochschullehrer, sondern verwendbar von jedem “who makes a profession of any art or science”, wenn nicht gar “a grandiose title by professional teachers and exponents of various popular arts and sciences, as dancing, juggling, phrenology, etc.”5

Zuerst scheint Poseck noch mit einer Privatschule (der „Brüder“?) in Verbindung gestanden zu haben, wie die folgende Anzeige aus dem Reading Mercury vom 11. April 1857 (also drei Monate vor seiner Heirat) nahelegt:

1857-04-11 Reading Mercury 6
Reading Mercury, 11. April 1857, S. 6

Über die Schule informiert das zeitgenössische Buch Our Schools and Colleges wie folgt:

Richmond House School
Herbert Fry: Our Schools and Colleges, London 1868, S. 191

Die obige Zeitungsanzeige deutet allerdings darauf hin, dass Poseck von Anfang an auch Privatunterricht erteilte, und darauf scheint er sich später beschränkt zu haben. Bereits im August 1857 nennt er in der Zeitung nur noch seine Privatadresse:

1857-08-08 Reading Mercury 3
Reading Mercury, 8. August 1857, S. 3

Die vollmundige Angabe “of the University of Berlin” mutet im Zusammenhang mit “professor of the GERMAN and FRENCH languages” etwas seltsam an; schließlich hatte Poseck in Berlin nicht etwa Deutsch und Französisch studiert, sondern vor allem Jura (1838–41).

1870 zog Poseck nach Southsea und bot auch dort per Zeitungsannonce seine Dienste an; sein Repertoire hatte er inzwischen auf Italienisch und klassische Sprachen ausgedehnt:

1870-06-04 Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle 1
Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle, 4. Juni 1870, S. 1

Vier Monate später genügte folgende Kurzanzeige:

1870-10-01 Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle 1
Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle, 1. Oktober 1870, S. 1

1872 zog Poseck innerhalb Southseas nochmals um:

1872-10-12 Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle 1
Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle, 12. Oktober 1872, S. 1

Sein Lehrangebot erweiterte sich stetig; 1876 bot er z.B. an, Schüler auf “Cambridge and Oxford Examinations” (vermutlich Zulassungsprüfungen der dortigen Universitäten) vorzubereiten, wenig später sogar auf “Naval and Military Examinations”:

1876-02-12 Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle 1
Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle, 12. Februar 1876, S. 1
1876-08-05 Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle 4
Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle, 5. August 1876, S. 4

1877 nannte er sich “German Master at the Royal Naval Academy, Anglesey College, etc.”, was wieder auf eine Verbindung mit schulischen Institutionen hinzudeuten scheint:

1877-07-28 Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle 1
Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle, 28. Juli 1877, S. 1

Eastman’s Royal Naval Academy war eine Privatschule in Southsea; ein Anglesey College konnte ich nicht ermitteln:

Eastman's Royal Naval Academy
Herbert Fry: Our Schools and Colleges, London 1868, S. 203

Die letzte Annonce Posecks, die ich gefunden habe, stammt aus dem Jahr 1878:

1878-03-30 Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle 1
Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle, 30. März 1878, S. 1

Ob er danach seine Privatlehrertätigkeit zugunsten einer Festanstellung aufgab, ob er keine Anzeigen mehr nötig hatte oder ob er – mit knapp 62 Jahren für damalige Verhältnisse sicherlich noch recht früh – in den Ruhestand ging, bleibt offen.

3. Vorträge

Auch Posecks Predigttätigkeit wird in den Zeitungen immer wieder erwähnt. Zum ersten Mal 1859 in der Bury and Norwich Post:

1859-08-23 The Bury and Norwich Post 2
The Bury and Norwich Post, 23. August 1859, S. 2

Posecks Themen waren recht vielfältig. 1862 predigte er z.B. in Leamington Spa über die Wiederkunft Christi:

1862-08-30 The Royal Leamington Spa Courier 4
The Royal Leamington Spa Courier, 30. August 1862, S. 4

1870 ging es in Ryde auf der Insel Wight um ein „höchst praktisches“ Thema:

1870-06-25 Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle 7
Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle, 25. Juni 1870, S. 7

Vergleichsweise ausführlich und sehr wohlwollend berichtete der Wrexham Advertiser über eine Vortragsreihe in Denbigh (Wales) im Juli 1871:

1871-07-29 The Wrexham Advertiser 8
The Wrexham Advertiser, 29. Juli 1871, S. 8

Gelegentlich wurde auch durch Anzeigen zu Vorträgen eingeladen, so z.B. 1860 im Birmingham Journal zu einer Evangelisation für deutsche Immigranten:

1860-04-14 The Birmingham Journal 4
The Birmingham Journal, 14. April 1860, S. 4

Auf Deutsch predigte Poseck 1862 auch in Leamington Spa:

1862-06-28 The Royal Leamington Spa Courier 4
The Royal Leamington Spa Courier, 28. Juni 1862, S. 4
1862-07-12 The Royal Leamington Spa Courier 4
The Royal Leamington Spa Courier, 12. Juli 1862, S. 4

Abschließend noch zwei Einladungen zu Vorträgen für Gläubige, vermutlich in den jeweiligen „Versammlungslokalen“:

1886-04-26 The Citizen 2
The Citizen, 26. April 1886, S. 2
1890-03-15 The Manchester Courier 1
The Manchester Courier, 15. März 1890, S. 1
4. Tod

Poseck starb nur zweieinhalb Monate nach seiner Frau. Auch seine Todesnachricht erschien im Londoner Standard; mir liegen davon zwei Schnipsel vor, leider beide schlecht lesbar:

1896-07-08 The Standard 1 BNA
The Standard, 8. Juli 1896, S. 1
1896-07-08 The Standard 1 NA
The Standard, 8. Juli 1896, S. 1

Hier mein Versuch einer Textrekonstruktion:

VON POSECH.—July 6, at 2, Algernon-road, Lewisham, Julius Anton E. W. Von Posech, in his 80th year. Funeral on Thursday, 3.45, at Lewisham Cemetery.


Verwandtschaften unter den frühen „Brüdern“

wigram
George Vicesimus Wigram

Max Weremchuk schreibt in seinem zweiten J.N. Darby Research Paper:

Early Brethren history almost reads like a “family affair”.

Ich habe mich in den letzten Wochen einmal intensiver mit den Familien einiger „Brüder“ der ersten Generation beschäftigt und die Ergebnisse in das Genealogie-Wiki WeRelate eingetragen. Hier ein paar Belege für Weremchuks Behauptung:

  • Parnells erste Frau Nancy war die Schwester von Cronin.

Auch innerhalb der nicht zur Brüderbewegung gehörenden Verwandtschaft gab es Verbindungen:

  • Parnells Schwester Emma Jane heiratete einen Cousin von Wigrams erster Frau Frances Bligh.

Um noch einmal Max Weremchuk zu zitieren:

These interconnections are amazing!! […] all these families knew each other and had contacts with each other.

Schaubilder zur Geschichte der Brüderbewegung

In dem Buch Was uns die Bibel lehrt (CV Dillenburg 2001) ist auf Seite 75 ein Schaubild zur Geschichte der deutschen Brüderbewegung abgedruckt, das ich etwas erweitert und modifiziert habe (zum Vergrößern anklicken):

bruedergeschichte_deutschland

Gegenüber der Vorlage habe ich u.a. die Raven-Brüder hinzugefügt (auch wenn sie heute zahlenmäßig unbedeutend sein mögen), außerdem die Glanton-Brüder (deren deutsche Geschichte noch weitgehend im Dunkeln liegt), die Abwanderung aus dem BEFG nach der Wende in der DDR sowie die „blockfreien“ Neugründungen (z.B. in Süddeutschland). Die variierende Balkenbreite soll einen groben Eindruck von den Größenverhältnissen geben (das kann natürlich nur annähernd geschehen). Zwischen Brüder- und Baptistengemeinden im BEFG habe ich eine dünne weiße Linie gelassen, da von einem wirklichen Zusammenschluss bis heute ja eigentlich nicht die Rede sein kann.

Überraschend mag vielleicht der Pfeil von den Raven- zu den Offenen Brüdern 1904/05 erscheinen. Meines Wissens ist in der Brüdergeschichtsliteratur bis heute nicht ausreichend gewürdigt worden, dass etliche namhafte Offene Brüder in Deutschland von den Raven-Brüdern herkamen, so etwa Christian Schatz (1897–1900 Herausgeber der Raven-Zeitschrift Worte der Gnade und Wahrheit!), Albert von der Kammer, Ferdinand Braselmann oder Ferdinand Hilliges. Oft nahmen diese Brüder beim Übertritt „ihre“ Versammlungen mit (z.B. Albert von der Kammer in Wolgast). Noch in den 1920er Jahren druckte Christian Schatz in seiner Zeitschrift Saat und Ernte gelegentlich Texte von Stoney, Coates oder Raven ab, und auch die eigentümliche damalige Lehre der Offenen Brüder über den Tisch des Herrn (vgl. die Broschüren von Braselmann, Schatz, Schreuder und von der Kammer) ist wahrscheinlich von ihrer Raven-Herkunft beeinflusst.

Ein vergleichbares Schaubild zur angloamerikanischen Brüdergeschichte wurde in den 1980er Jahren von Grant W. Steidl erstellt. Mir liegen davon zwei Versionen vor:

brethren_history_steidl_hawke

brethren_history_steidl_jamieson

Einige wichtige Gruppen fehlen hier allerdings, so z.B. der „Needed-Truth“-Zweig der Offenen Brüder, der „Independent“-Zweig der Grant-Brüder und die verschiedenen Raven-Abspaltungen. Außerdem kann man wohl nicht von einer generellen Vereinigung der Grant- und Stuart-Brüder 1885 sprechen.

Was ist eine Brüdergemeinde?

brotbrechenEs hat in den letzten Jahren einige Versuche gegeben, zu definieren, was das Wesen einer Brüdergemeinde ausmacht (z.B. von Gerhard Jordy, Hartwig Schnurr, Stephan Holthaus, Karl-Heinz Vanheiden, Philip Nunn). Mir persönlich scheinen dabei äußerliche bzw. organisatorische Merkmale oft zu sehr im Vordergrund zu stehen. Ist wirklich jede Gemeinde, die sich als bibeltreu versteht, keinen Pastor hat, das „allgemeine Priestertum“ praktiziert und jede Woche das Abendmahl feiert, eine Brüdergemeinde? Dann könnte z.B. auch eine Gemeinde, in der die Gültigkeit des mosaischen Gesetzes, die Verlierbarkeit des Heils und der Postmillennialismus gelehrt wird, als Brüdergemeinde durchgehen. Aber wäre das historisch und theologisch gerechtfertigt? Meiner Ansicht nach gehört zur Identität einer Brüdergemeinde unbedingt auch eine dispensationalistische Theologie (und damit meine ich nicht nur eine dispensationalistische Eschatologie, sondern auch eine dispensationalistische Soteriologie und Ethik).

Ich habe vor einiger Zeit einmal versucht, die (aus meiner Sicht) wichtigsten Merkmale von Brüdergemeinden in knappstmöglicher Form zusammenzustellen, und zwar so, dass sich sowohl „offene“ als auch „geschlossene“ Gemeinden grundsätzlich darin wiederfinden können (abgesehen vielleicht von den äußersten „linken“ und „rechten“ Flügeln).

1. Einfachheit: Brüdergemeinden orientieren sich an den schlichten Gemeindestrukturen des Neuen Testaments. Dazu gehört der Verzicht auf einen besonderen konfessionellen Namen,1 der sie von anderen Gemeinden mit anderen Namen abgrenzen würde, auf eine formelle Mitgliedschaft, auf hierarchische Organisationsstrukturen u.a.

2. Selbständigkeit und Einheit: Brüdergemeinden sind grundsätzlich selbständig,2 also keiner überregionalen, nationalen oder internationalen Kirche, Freikirche3 oder Organisation angeschlossen. Sie pflegen aber freundschaftlichen Kontakt und Austausch mit ähnlich ausgerichteten Gemeinden an anderen Orten und fühlen sich mit allen wiedergeborenen Christen verbunden.

3. Allgemeines Priestertum: Es wird nicht zwischen „Geistlichen“ und „Laien“ unterschieden, sondern jeder Gläubige darf entsprechend den Gaben, die er von Gott erhalten hat, zum Gemeindeleben beitragen.4 Für keinen der Dienste in der Gemeinde ist eine besondere Ausbildung oder formelle Anstellung erforderlich.

4. Spontaneität: Brüdergemeinden vertrauen darauf, dass der Heilige Geist ihre Zusammenkünfte leitet. Daher wird der Ablauf in der Regel nicht im Voraus geplant,5 sondern er ergibt sich aus spontanen Gebeten, Liedvorschlägen, Bibellesungen, Wort- und Predigtbeiträgen.

5. Bruderschaftliche Leitung: Eine Gruppe von Brüdern, die sich für die Gemeinde verantwortlich fühlen, übt eine gewisse Leitungsfunktion aus.6 Sie stehen jedoch nicht über der Gemeinde, sondern mitten in ihr und legen wichtige Entscheidungen der gesamten Gemeinde zur Prüfung vor.

6. Gläubigentaufe: Die Taufe wird als persönlicher Gehorsamsakt nach der Bekehrung verstanden und durch Untertauchen praktiziert. Von Gläubigen, die als Kinder in einer christlichen Kirche getauft wurden und diese Taufe als gültig anerkennen, wird in der Regel keine Wiedertaufe verlangt.7

7. Hochschätzung des Abendmahls: Das Abendmahl (Brotbrechen) spielt in Brüdergemeinden eine zentrale Rolle. Es wird nach dem Vorbild des Neuen Testaments jeden Sonntag gefeiert und von Gebeten, Liedern und Schriftlesungen zur Ehre Gottes umrahmt.

8. Offenheit für Besucher: Zu allen Zusammenkünften sind Gäste herzlich willkommen. Am Mahl des Herrn dürfen sie teilnehmen, wenn sie bekennen, dass Jesus Christus ihr Retter und Herr ist und dass sie nicht in einer moralischen oder lehrmäßigen Sünde leben, die nach dem Neuen Testament von der Gemeinschaft ausschließt.8

9. Bibeltreue:9 Die Heilige Schrift gilt als höchste Autorität für Lehre und Leben des Einzelnen und der Gemeinde. Alle Auslegungen, Meinungen und Erfahrungen müssen sich an ihrem Maßstab prüfen lassen.

10. Heilsgeschichtliche10 Bibelauslegung: Brüdergemeinden sind überzeugt, dass Gott im Laufe der Geschichte auf verschiedene Weise mit den Menschen umgegangen ist. Insbesondere werden das alttestamentliche Volk Israel und die neutestamentliche Gemeinde als unterschiedliche Personengruppen gesehen, für die unterschiedliche Aussagen der Bibel gelten.11

11. Stellung und Zustand des Gläubigen: Brüdergemeinden unterscheiden zwischen der vollkommenen, unverlierbaren Stellung des Gläubigen in Christus und seinem oft noch unvollkommenen praktischen Zustand. Das christliche Leben soll durch ständiges Wachstum in der Erkenntnis und der Nachfolge Jesu gekennzeichnet sein.12

12. Naherwartung: Brüdergemeinden erwarten die baldige Wiederkunft Jesu Christi zur Auferweckung der verstorbenen und zur Entrückung der lebenden Gläubigen.13


Brief von Julius Anton von Poseck an Theophil Wilms

poseck
Julius Anton von Poseck

August Jung erwähnt in seiner Poseck-Biografie1 mehrmals einen Brief, den Julius Anton von Poseck (1816–1896) zusammen mit seiner Broschüre Christus oder Park-Street (1882) an Theophil Wilms (1832–1896), den Gründer der Freien evangelischen Gemeinde Düsseldorf, gesandt hatte. Beide Dokumente, Broschüre und Brief, gelangten später in die Bibliothek des Predigerseminars des Bundes Freier evangelischer Gemeinden (heute Theologisches Seminar Ewersbach), von wo sie eines Tages unter ungeklärten Umständen verschwanden. Als Jung sein Buch schrieb, befanden sie sich im Privatarchiv eines namentlich genannten Sammlers.2 Inzwischen ist dieser verstorben, und der größte Teil seines brüdergeschichtlichen Archivs wurde nach Nordirland verkauft. Es ist also davon auszugehen, dass die beiden Dokumente jetzt dort lagern.

Von der Broschüre wurde, als sie noch in Deutschland war, eine Fotokopie angefertigt, auf der links neben dem Titelblatt auch die letzte Seite des Briefes zu sehen ist. Diese Fotokopie lag August Jung vor, und von ihr zitierte er einen längeren Abschnitt (S. 134). Der größte Teil des Briefes (23 von 24 Seiten) war der Forschung jedoch unbekannt und unzugänglich, und daran dürfte sich auch durch den Verkauf nach Nordirland nichts geändert haben.

Umso größer war meine Überraschung, als mir neulich ein alter Bruder eine vollständige maschinengeschriebene Abschrift eben dieses Briefes gab, die er beim Aufräumen gefunden hatte! Es handelt sich um einen Durchschlag (es müssen also noch weitere Exemplare existiert haben), vermutlich aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wegen seiner Seltenheit habe ich das Dokument sofort digital ediert und stelle es nun auf bruederbewegung.de zum Download zur Verfügung.

Interessanterweise entspricht der Brief nicht ganz den Erwartungen, die man aufgrund der Darstellung bei August Jung an ihn haben könnte. Denn obwohl er der Broschüre Christus oder Park-Street beigelegt war, handelt er von einem völlig anderen Thema: von der Bethesda-Trennung bzw. den Offenen Brüdern. Theophil Wilms stand mit dem Offenen Bruder Friedrich Wilhelm Baedeker in Kontakt (der auch an der Gründung der FeG Düsseldorf beteiligt war), und Poseck meinte ihn (Wilms) eindringlich vor den Offenen Brüdern warnen zu müssen. Dazu zitierte bzw. übersetzte er ausführlich aus den OB-kritischen Schriften The Brethren (commonly so-called) von Andrew Miller und Is There Not a Cause? von Alexander Craven Ord und nannte abschreckende Beispiele aus seiner eigenen Erfahrung. Sein Hauptvorwurf lautete, dass die Offenen Brüder die Irrlehren Newtons nicht ausreichend verurteilt hätten und sie immer noch duldeten, ja teilweise sogar selbst verträten.

Was auch immer man von diesem Standpunkt halten mag – einige Behauptungen August Jungs müssen wohl korrigiert oder zumindest modifiziert werden. Ich denke da an folgende:

nachdem dieser [Wilms] ihn [Poseck] noch anfangs 1882 in London besucht hatte.3

Für diese Aussage nennt Jung keinen Beleg; nach dem Brief stellt sich die Situation anders dar. Wilms hatte Poseck brieflich um ein Exemplar der Schrift Christus oder Park-Street gebeten; diese erschien frühestens im September 1882. Zu dieser Zeit war Wilms dem Verfasser aber noch „persönlich unbekannt“, deshalb bat Poseck ihn, zuerst seinen „religiösen Standpunkt und Verbindung“ angeben, was Wilms auch tat. Die Antwort stellte Poseck zufrieden, aber dann verlegte er Wilms’ Brief und vergaß seinen Namen, sodass er ihm erst mit großer Verspätung antworten konnte – sein Brief muss nach dem 8. Mai 1883 geschrieben worden sein, denn er erwähnt den „kürzlich entschlafenen A. Miller“. Eine persönliche Begegnung Wilms’ mit Poseck Anfang 1882 in London ist daher wohl eher unwahrscheinlich.

so tadelt v. Poseck ihn [Darby] und seine Anhänger als solche, die mit „einem engen Herzen auf dem engen Pfade wandeln“ […]. Somit kämpft er an zwei Fronten: Gegen eine sektiererische Enge derer in Park Street […]4

Es ist nicht sicher, dass Poseck mit dem zitierten Satz auf Darby abzielt. Darby und Park-Street kommen in dem ganzen Brief nicht vor.

Gleichwohl kam er [Poseck] öfter als früher zurück nach Deutschland und verwirklichte sein neues, brüderliches Programm dahingehend, dass er in jene freistehenden Kreise ging, die von dem weit bekannten „Offenen Bruder“ Friedrich Wilhelm Baedeker (1823–1906) geprägt waren. […] Im Einzelnen handelt es sich darum, dass durch die Wirksamkeit Baedekers einzelne Gemeinden im Westen Deutschlands entstanden waren, die durch die „Open Brethren“ in England geprägt waren.5

Bedenkt man Posecks zurückhaltendes Urteil über Baedeker und sein vernichtendes Urteil über die Offenen Brüder, erscheint es eher zweifelhaft, ob er die beschriebenen Kreise wirklich regelmäßig aufgesucht und sich dort wohlgefühlt hat. Immerhin verfolgte sein Brief von 1883 ausdrücklich das Ziel, sowohl Wilms als auch Baedeker „zur Befreiung von einer Gemeinschaft [zu] dienen“, „die nach meiner innersten Überzeugung nicht zur Ehre Gottes ist und der Sie sowohl wie er, wie ich gerne glauben möchte, bisher nur aus Mangel an genauerer oder vielleicht wegen vorenthaltener Kenntnis des wahren Tatbestandes angehört haben“.


Neu- und Wiederveröffentlichungen: Lenz, Liese, Beattie

mueller
Georg Müller

(1) An der Kansas State University wurde soeben eine Dissertation über Georg Müller abgeschlossen (wahrscheinlich die erste größere wissenschaftliche Arbeit über Müller überhaupt). Sie ist als Volltext online abrufbar:

Darin Duane Lenz: “Strengthening the Faith of the Children of God”: Pietism, Print, and Prayer in the Making of a World Evangelical Hero, George Müller of Bristol (1805–1898)

(2) Andreas Lieses interessanter Aufsatz „Taufverständnisse in der Brüderbewegung“ (Zeitschrift für Theologie und Gemeinde 2007) ist seit kurzem online.

(3) David J. Beatties Klassiker Brethren: The Story of a Great Recovery (Kilmarnock 1939, antiquarisch oft nur für dreistellige Beträge erhältlich) gibt es seit letztem Jahr als Faksimile-Nachdruck.

John Nelson Darby – ein Fundamentalist?

John Nelson Darby gilt heute vielen – auch unter seinen Verehrern – als einer der Väter, wenn nicht als der Vater des modernen protestantischen „Fundamentalismus“.1 Dabei wird häufig übersehen, dass er auf manchen Gebieten erstaunlich „unfundamentalistisch“ und tolerant dachte. Zwei davon möchte ich hier vorstellen.

Länge der Schöpfungstage
darby
John Nelson Darby

Im heutigen Junge-Erde-Kreationismus ist die Länge der Schöpfungstage nicht verhandelbar: Es muss sich um „gewöhnliche Tage“ à 24 Stunden gehandelt haben, alles andere wäre Bibelkritik. Darby sah dies wesentlich gelassener. Einerseits schreibt er in Hints on the Book of Genesis (CW 19:57, Übersetzung von mir):

Ich selbst glaube, dass es sechs Tage von je vierundzwanzig Stunden waren, denn ich habe keinen biblischen Grund dagegen.

Andererseits lässt er im Second Dialogue on the Essays and Reviews erkennen, dass er auch mit abweichenden Auffassungen kein grundsätzliches Problem hatte (CW 9:104f.):

Ich habe keine Meinung und keinen moralischen Einwand dagegen, die Tage als ausgedehnte Perioden aufzufassen, aber es erscheint mir ein wenig gezwungen/gekünstelt.

„Ein wenig gezwungen/gekünstelt“ (somewhat forced) – im Vergleich zum Vorwurf der Irrlehre oder Bibelkritik nimmt sich dieses Urteil doch recht milde aus. (Allerdings waren die frühen „Brüder“ als Vertreter der „Lückentheorie“ ja ohnehin keine Junge-Erde-Kreationisten im modernen Sinne.)

Quellen im Pentateuch

Viele „fundamentalistische“ Bibelleser sind überzeugt, dass Mose der Pentateuch vom ersten bis zum letzten Buchstaben direkt von Gott offenbart wurde (vielleicht mit Ausnahme des letzten Kapitels, das Moses Tod schildert). Auch dafür hätte Darby seine Hand nicht ins Feuer gelegt. Die in der Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts aufkommende Unterscheidung zwischen „jahwistischen“ und „elohistischen“ Teilen lehnte er zwar mit Recht als “stupid theory” ab, aber die Existenz von Quellen an sich stellte für ihn kein Problem dar, wie er im Second Dialogue on the Essays and Reviews deutlich macht (CW 9:88):

Ich hätte keine Schwierigkeit damit, zwei, zwanzig oder zwanzigtausend Dokumente [im Pentateuch] anzunehmen, vorausgesetzt, dass ich Gottes Bericht über die Ereignisse darin finde. Menschliche Vermittlung kann ich in jedem Maße zugestehen, vorausgesetzt, dass ich göttliche Sicherheit und göttliche Absicht [darin] finde.

Noch pointierter drückt er es in The Irrationalism of Infidelity aus (CW 6:183):

Es ist mir völlig gleichgültig, ob Mose fünfhundert Dokumente benutzt hat, solange das Ergebnis exakt, vollkommen und vollständig das ausdrückt, was Gott mir mitteilen wollte.

Darby besteht also nicht auf der einheitlichen Autorschaft Moses, sondern erklärt die ganze Frage letztlich für irrelevant; maßgebend für ihn ist, dass die Endgestalt des Textes Gottes autoritatives und zuverlässiges Wort ist. An der überlegenen Ironie, mit der er die Sache behandelt (“twenty thousand documents”), sollte man sich heute vielleicht ein Beispiel nehmen.