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Neues über Max Springer (3): Die Familie

Dem im letzten Blogeintrag angeführten Zitat aus Unsearchable Riches war zu entnehmen, dass Max Springer mindestens eine Tochter hatte, die 1931 in Düsseldorf wohnte. Weitere Informationen über seine Familie liegen bislang nicht vor; die Datenbanken auf FamilySearch können jedoch zumindest einige Hinweise auf seine Geschwister geben.

Amerikareisen

cedric1921 und 1923 taucht Max Springers Name auf Schiffspassagierlisten auf: In diesen beiden Jahren reiste er jeweils für mehrere Monate in die Vereinigten Staaten, um – so die Eintragung in den Listen – seine Schwester Elise Warwas zu besuchen, die in Forest Park (Illinois) lebte. Dass es sich tatsächlich um „unseren“ Max Springer handelt, wird durch die Heimatadresse in Berlin-Wilmersdorf bestätigt, die mit der aus Unsearchable Riches bekannten übereinstimmt: Güntzelstraße 29 (in der Liste von 1921 fälschlich „Gunkelstrasse“ geschrieben). Springers Beruf wird 1921 als „priest“, 1923 als „Pastor“ angegeben, seine Größe beide Male als „5 Feet 8 Inches“ (= 1,73 m), seine Haarfarbe 1921 als „mixed“, 1923 als „grey“, seine Augenfarbe beide Male als „grey“. Interessanter als diese äußerlichen Details ist sein Geburtsort, der in beiden Listen dokumentiert ist: Springer wurde im oberschlesischen Neisse (heute Nysa, Polen) geboren, stammte also nicht aus dem Wuppertal, wo er in den 1890er und 1900er Jahren wirkte (ältere Nachrichten über ihn lagen ja bisher nicht vor). Sein Alter ist offensichtlich nur auf der Liste von 1923 korrekt angegeben (65; daraus ergibt sich dasselbe Geburtsjahr wie aus dem Nachruf von Adolph E. Knoch), während die Liste von 1921 ihn fünf Jahre jünger macht (58 statt 63).

Die 1921er Reise war laut Passagierliste Springers erster Besuch in den USA. Sein Schiff „Noordam“ legte am 3. August in Rotterdam ab und traf am 13. August in New York ein. Springers Aufenthalt war auf sechs Monate veranschlagt; das amerikanische Bürgerrecht – auch danach wurde in der Passagierliste gefragt – hatte er nicht vor zu beantragen. Wenn alles wie geplant verlief, müsste er also im Februar 1922 zurückgekehrt sein. Am 8. Dezember des folgenden Jahres machte er sich von Liverpool aus erneut auf die Reise, und zwar mit dem Schiff „Cedric“, das am 17. Dezember in New York ankam. Diesmal wollte er ein ganzes Jahr bleiben, und die Frage nach der Beantragung des Bürgerrechts blieb offen („Uncer[tain]“). Vermutlich ist es dazu nicht gekommen, aber das Jahr 1924 dürfte Springer größtenteils in den USA verbracht haben.

Interessanterweise hielt sich ein alter Freund und Mitstreiter Springers um diese Zeit ebenfalls in den Vereinigten Staaten auf: Heinrich Großmann war acht Monate vor ihm, am 7. April 1923, in New York eingetroffen und blieb bis 1929. Auch wenn er sich in der Nähe von New York niederließ – die Passagierliste nennt das unmittelbar benachbarte Jersey City als Zielort –, ist es doch gut möglich, dass die beiden Kontakt miteinander aufnahmen. Großmann lernte während seines sechsjährigen Aufenthalts auch Adolph Ernest Knoch kennen;1 es ist nicht auszuschließen, dass dies auch für Springer gilt.

Ein weiterer alter Bekannter lebte seit über zehn Jahren ganz in der Nähe von Springers Schwester: Prediger Julius Rohrbach, der drei Jahrzehnte in Moabit und Charlottenburg tätig gewesen war und 1908 in einem Brief an Echoes of Service Springers „gesegnetes Zeugnis“ in Berlin gelobt hatte,2 war 1910 oder spätestens 1913 in die USA emigriert und wohnte in einem nördlichen Vorort von Chicago, knapp 30 km von Forest Park entfernt. Über eventuelle Kontakte während Springers erstem oder zweitem Amerikaaufenthalt lässt sich natürlich auch hier nur spekulieren.

Geschwister

elisewarwasElise Warwas geb. Springer, Max’ Schwester, hatte bereits 1892 bis 1896 in den Vereinigten Staaten gelebt und wanderte 1898 von Charlottenburg endgültig dorthin aus. Als Bezugsperson in den USA wird ein Schwager namens „Jan Johannsen“ genannt. Zwei Jahre später, als der Census 1900 erhoben wurde, war Elise bereits Witwe und wohnte mit ihren beiden Kindern Richard (* September 1877; Beruf: „Painter“) und Freda (* Januar 1884; Beruf: „Milliner“ = Hutmacherin oder -verkäuferin) sowie ihrem unverheirateten Bruder Frederick Springer (* Mai 1861; Beruf: „Pocket Book Maker“) im Chicagoer Stadtteil West Town. Ihr Geburtsdatum wird mit September 1857 angegeben; demnach war sie ein Jahr älter als ihr Bruder Max.

1915 meldete Elise Warwas den Tod einer Agnes Springer, Tochter von Wm. Springer und Johanne Wacke, geboren am 29. November 1859 in Deutschland, verstorben am 11. Juli 1915 in Oak Park (Illinois), unverheiratet – also offensichtlich eine weitere Schwester. Agnes hatte beim Census 1900 als Hausangestellte der Familie Augustus J. Wampler im Chicagoer Stadtteil Hyde Park gelebt; eingewandert war sie bereits 1886 und somit wohl als Erste der Springer-Familie. 1910 arbeitete sie im Haushalt zweier alter Damen, Katarina Viering (82, verwitwet) und Eliza Brenneman (89, unverheiratet), beide aus Deutschland gebürtig.

Elise Warwas kann ich im Census von 1910 nicht finden. Ihr Bruder Frederick wohnte zu dieser Zeit bei der Familie seines Schwagers Jens Johansen (43 Jahre alt, geboren in Dänemark, Kupferschmied; offenbar identisch mit dem bereits genannten „Jan Johannsen“). Wenn Johansen ein Schwager der Springers war, muss seine Frau Christina (40 Jahre alt, geboren in Deutschland, eingewandert 1892, seit 17 Jahren verheiratet) eine dritte Schwester gewesen sein. Im Census 1900 findet sie sich unter dem Namen Christina Johanson (Ehefrau von „John Johanson“); ihr Geburtsdatum wird mit Oktober 1869 angegeben, ihre Kinder heißen William (* Mai 1895) und Annie (* Juni 1897). 1910 ist noch ein Sohn Walter (* 1902) dazugekommen.

Mit dem Census 1920 nähern wir uns dem Zeitraum, in dem Max Springer sich in den USA aufhielt. Wie sich zeigt, war die in den Schiffspassagierlisten angegebene Zieladresse „504 Elgin Avenue, Forest Park“ nicht das Haus von Elise Warwas, sondern das ihres (ebenfalls deutschstämmigen) Schwiegersohns Henry O. Lessner, bei dessen Familie sie nun wohnte. Der Name ihrer inzwischen 36-jährigen Tochter erscheint jetzt als „Elfrieda“; zum Haushalt gehörten ferner die Kinder Herbert (11) und Margaret (7) sowie der „Roomer“ Gustav Knausch (49).

Schwester Christina Johansen (diesmal „Christine“ geschrieben) war beim Census 1920 bereits Witwe3 und mit ihren drei Kindern William, Anna (sic) und Walter an derselben Chicagoer Adresse gemeldet wie 1910. Drei Jahre später, am 7. November 1923, starb auch sie, erst 54 alt. Die Todesmeldung enthält ihr exaktes Geburtsdatum: 6. Oktober 1869.

Bruder Frederick ist im Census von 1920 unauffindbar. Am Censustag 1930 (dem 1. April) befand er sich im Chicago State Hospital, einer psychiatrischen Klinik; zweieinhalb Monate später, am 15. Juni 1930, starb er im Alter von 69 Jahren. Seine Todesmeldung liefert wiederum das genaue Geburtsdatum (11. Mai 1861) und bestätigt die bereits im Zusammenhang mit Agnes erwähnten Namen der Eltern (wenn auch wieder in leicht abweichender Form – wahrscheinlich transkriptionsbedingt): William und Johanna Wache. In einer anderen Datenbank werden sogar die Geburtsorte der Eltern genannt: Der Vater stammte aus dem niederschlesischen Brieg (heute Brzeg, Polen), die Mutter (hier Johanna Woche geschrieben4) aus Neisse, wo auch Frederick (ursprünglich sicher Friedrich) geboren wurde.5

oldpeopleshomeSchwester Elise wohnte 1930 im „German Baptist Old People’s Home“ in Chicago – der einzige bislang vorliegende Hinweis auf die Glaubensstellung eines der „amerikanischen“ Springer-Kinder. Auch sie starb jedoch noch im selben Jahr, nämlich am 22. Oktober. Gemeldet wurde ihr Tod von einem gewissen Henry Koch, der offenbar nur ungenau über sie Bescheid wusste: So wird der Vorname ihres Vaters mit „Friedrich“ und ihr Geburtsdatum mit dem 7. September 1856 angegeben (statt 1857). Immerhin erfahren wir hier aber den Vornamen ihres verstorbenen Mannes (Henry, also wohl Heinrich) und finden wieder den Geburtsort Neisse bestätigt.

Es ist bemerkenswert, dass nicht weniger als vier Geschwister von Max Springer ihr Glück in Amerika suchten. Ob außer Max noch weitere in Deutschland blieben, lässt sich derzeit noch nicht sagen, da für den deutschsprachigen Raum keine vergleichbaren Online-Datenbanken existieren. Auch die Namen und Lebensdaten von Max’ Frau und Kindern wären wohl nur durch Archivrecherchen herauszufinden (aus der Passagierliste von 1923 geht immerhin hervor, dass der Name seiner Frau mit E begann).

Die Lebensdaten der fünf bekannten Springer-Geschwister sollen hier abschließend noch einmal übersichtlich zusammengestellt werden (zum Vergrößern klicken):

geschwisterspringer

Anhang: Der Erfinder

patentblattSucht man per Google nach „Max Springer Vohwinkel“, so stößt man auf mehrere Einträge in alten Patentzeitschriften, die leider (noch) nicht im Volltext zugänglich sind. Offensichtlich ließ Springer Ende des 19. Jahrhunderts mehrere Erfindungen patentieren, darunter ein „Pneumatisches Schutzband gegen Wundwerden und zum Schutz für Wunden, aus einem mit Befestigungsringen (Bändern) versehenen Schlauch mit Lufteinblasventilschlauch bestehend“ (Patentblatt 1897), einen „Elastischen Schutzring für Wunden, mit freistehendem Ventilschlauch und Schutzhülfe für denselben“ (ebd.), ein „Elastisches Schutzkissen gegen Wundwerden und zum Schutze vor Wunden“ (Illustrirtes Österreichisch-Ungarisches Patent-Blatt 1897) oder einen „Elastischen Schutzring für Zugthiere gegen Wundwerden und zum Schutze von Wunden mit auswechselbarem Luftkissen“ (Patentblatt 1900). Eine dieser Erfindungen wurde 1898 in der französischen Landwirtschaftszeitschrift Journal de l’agriculture wie folgt beschrieben:6

Um diese Nachteile zu überwinden, erfand Herr Max Springer aus Vohwinkel (Rheinprovinz) pneumatische Wundschutzringe. Dieses Gerät ist aus Leder gefertigt und mit einem Gummiring ausgestattet, der je nach Bedarf mit einer Luftpumpe mehr oder weniger aufgeblasen werden kann; dies ist von hohem hygienischem Wert, insbesondere bei Verspannungen, Abszessen, Schwellungen nach Operationen usw. Er ist außerdem mit einem freien Lüftungsloch A ausgestattet, das nach dem Aufblasen in einem Schutzzwickel platziert wird. Das Gerät wird verwendet, um verschiedene Wunden und Schrammen zu schützen.

Die Erfindung und Herstellung solcher Geräte war demnach wohl der Beruf, von dem sich Max Springer 1899 nach Einschätzung des Offenen Bruders Max Isaac Reich „immer mehr freimachen“ konnte, „um am Wort zu dienen“.7


Neues über Max Springer (2): Der Allversöhnungslehrer

In meinem Blogeintrag „Eine wenig bekannte Artikelserie von ‚Titus Blicker‘“ wies ich bereits darauf hin, dass Max Springer in Ekkehard Hirschfelds Dissertation über den methodistischen Theologen Ernst Ferdinand Ströter (1846–1922) erwähnt wird. Laut Hirschfeld war Springer nämlich ein „wichtiger Mitarbeiter“ des von Ströter beeinflussten Predigers Heinrich Großmann (1879–1958), der in Berlin ab 1908 eine unabhängige „Christliche Gemeinschaft“ leitete.1

Heinrich Großmann

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Heinrich Großmann (1879–1958) mit seinen Kindern Helene und Hellmuth

Zur Einordnung zitiere ich hier zunächst das vollständige „Biogramm“ Großmanns aus dem Anhang von Hirschfelds Dissertation:

Arthur Heinrich Großmann, geb. 8.7.1879 in Danzig, gest. 29.9.1958 in Berlin. Kaufmännische Ausbildung und Tätigkeit, 1897 Bekehrung, 1899 Beginn evangelistischer Tätigkeit in Pommern mit eigenem Missionszelt (Evangelisation Immanuel), 1908 Gründung der ‚Christlichen Gemeinschaft‘ in Berlin in Kooperation mit eine[r] Gemeinschaft in Posen, 1910 Aufgabe der Zeltmission, 1916 Beitritt der Gemeinde zu den Baptisten, 1923–1929 Evangelist in den USA, 1931 Umzug der Gemeinde in die Hasenheide, 1941 Austritt der Gemeinde aus dem Bund der Baptisten. Evangelist, Prediger und Gemeindeleiter, früh ein Gegner der Pfingstbewegung, Autor zahlreicher Traktate und Schriften, 1908–1939 Herausgeber der Zeitschrift Forschet in der Schrift, später Der schmale Weg.2

Wann Max Springer zum Mitarbeiter Großmanns wurde, lässt sich anhand der vorliegenden Quellen zumindest ungefähr bestimmen. Im November 1909 meldete er sich bei Echoes of Service noch aus Charlottenburg,3 also wohl aus der Gemeinde Julius Rohrbachs (1852–1935) in der Krummen Straße. Vom 30. Januar bis 6. Februar 1910 hielt er dann eine Vortragsreihe über „Gottes Erlösungsplan von Zeitalter zu Zeitalter (illustriert an einer großen Karte)“ in der „Christlichen Gemeinschaft“ in Posen, Seecktstraße 6 – dabei dürfte es sich bereits um Großmanns Partnergemeinde gehandelt haben:

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Auf der Warte 7 (1910), Heft 3, S. 4

Ein Jahr später druckte Echoes of Service den letzten Bericht von bzw. über Springer ab:

Herr Max Springer wird ermutigt in der Arbeit, die er kürzlich in Berlin begonnen hat, und er schreibt auch in tiefer Dankbarkeit von einer Konferenz, die unlängst in Posen stattfand (einst die Hauptstadt Polens) und an der er gemeinsam mit anderen, uns unbekannten Dienern Gottes teilnahm. Er sagt: „Der Geist Gottes hatte durchgehend die Leitung, und die Wahrheit, die den Gläubigen vorgestellt wurde, war lehrreich, auferbauend und nahrhaft für die Seelen. Wir waren in Frieden zusammen, auch wenn viele Fragen aufkamen und behandelt wurden.“4

Danach kommt der Name Max Springer in Echoes of Service nicht mehr vor. Es ist anzunehmen, dass er sich um die Jahreswende 1910/11 – vielleicht schon mit seinem Umzug nach Berlin5 – von den Offenen Brüdern löste und mit Großmann zusammenzuarbeiten begann; im Juni 1911 erschien jedenfalls bereits ein von beiden gemeinsam verfasster Artikel in Großmanns Zeitschrift Forschet in der Schrift.6

Großmann – ein „Darbyst“?

Großmanns Theologie war, so Hirschfeld,

stark von Ströter beeinflusst und enthielt darbystische Elemente bis hin zur denominationellen Selbstständigkeit der Berliner Gemeinschaft; dennoch wollte sich Großmann nicht als Darbyst oder Neudarbyst verstanden wissen.7

Wir stoßen hier auf eine Doppeldeutigkeit des Wortes Darbysmus, die sich durch die gesamte Literatur der damaligen Zeit zieht. Großmann und Springer bezeichneten damit die Brüderbewegung und ihre gemeindlichen Strukturen und konnten sich daher mit Recht davon distanzieren:

Wir brauchen die Bezeichnung „Darbysmus“ nicht als Schimpfwort, sondern nur, um eine bestimmte Richtung, die eben auch eine Partei ist, zu bezeichnen. […] Wir wollen keine „Darbysten“ sein oder werden, auch keine „Neudarbysten“, wie man angefangen hat uns zu nennen. […] Wir sind grundsätzlich dagegen, daß von einer „Zentrale“ aus, oder von „maßgebenden“ Brüdern eine Herrschaft über die einzelnen Gemeinden ausgeübt wird. Wir halten es für sündhaft und unbrüderlich, wenn ein Bruder in die Lokal-Gemeinde eines anderen Ortes hineinreden will. […] Leider hat es in unseren Kreisen solche darbystisch angehauchten Brüder gegeben, die dieses versuchten; sie sind aber ermahnt worden, und wenn sie ihre darbystische Unart nicht ließen, der Gemeinde so bezeichnet, daß sie keinen Schaden anrichten konnten.8

Andere Autoren verwendeten das Wort Darbysmus dagegen als Sammelbegriff für bestimmte Lehrauffassungen, die als typisch für Darby oder die Brüderbewegung galten, aber durchaus auch außerhalb davon anzutreffen sein konnten. Ernst Bunke (1866–1944), Leiter der Berliner Stadtmission, nannte 1903 z.B. folgende fünf „Bestandteile des darbystischen Sauerteigs“, die sich seiner Ansicht nach auch in der Gemeinschaftsbewegung breitmachten:

[1] Die Absonderung von der Kirche, zumal bei der Abendmahlsfeier, und der Wunsch, die Brautgemeinde in Vollkommenheit darzustellen, [2] die Unterschätzung der Sünde und die Ueberschätzung des eigenen Gnadenstandes, [3] die schwärmerische Beschäftigung mit den letzten Dingen, [4] die geschichtslose Anschauung von der heiligen Schrift und [5] die Verachtung der kirchengeschichtlichen Lehren des heiligen Geistes – […] das alles spiegelt sich in Gemeinschaftskreisen nur zu oft wieder.9

Mit dem dritten Punkt meinte er speziell den „Glaube[n] an die Entrückung der Gläubigen vor dem Kommen des Herrn zum Gericht“.10 Diese „darbystische Anschauung“ einer „prätribulatorischen Entrückung“ teilte auch Großmann, wie Hirschfeld mehrmals betont,11 und für sie machte er sich „noch Anfang der 1920er Jahre“ stark, nachdem sie in den Gemeinschaftskreisen unter Beschuss geraten war.12 Ohne jeden Zweifel nämlich war Großmann – wie Ströter – Dispensationalist, und tatsächlich hat man den Eindruck, dass das Wort Darbysmus im damaligen Kontext oft nichts anderes als „Dispensationalismus“ bedeutete.13

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Ernst Ferdinand Ströter (1846–1922)

Ströters Variante des Dispensationalismus würde man heute wohl als Ultradispensationalismus bezeichnen; so sah er wie Ethelbert William Bullinger (1837–1913) in der „Braut“ nicht die Gemeinde, sondern Israel,14 betrachtete den Taufbefehl von Mt 28,19 als für das Gemeindezeitalter nicht gültig15 und vertrat möglicherweise eine Auswahlentrückung.16 Der erstgenannten Ansicht stimmte auch Großmann zu,17 der zweiten wohl nicht.18 Zur Allversöhnungslehre, die Ströter ab 1909 verkündigte19 und für die er heute noch am bekanntesten ist, hielt Großmann lange Zeit ebenfalls Distanz; erst die Begegnung mit dem deutsch­amerikanischen Bibelübersetzer Adolph Ernst Knoch (1874–1965) während seines Amerikaaufenthalts 1923–29 scheint ihn zum Umdenken bewogen zu haben,20 und ab 1937 vertrat auch er diese Lehre öffentlich.21 Sie gehört bis heute zu den Grundüberzeugungen der von Großmann gegründeten Berliner Gemeinde.22

Großmann und Springer

Zurück zu Max Springer. Was genau ihn um die Jahreswende 1910/11 veranlasste, sich von den Offenen Brüdern zu trennen und sich Heinrich Großmann anzuschließen (ohne allerdings Mitglied in dessen Gemeinde zu werden23), geht aus den bislang vorliegenden Quellen nicht eindeutig hervor – sowohl in der Struktur als auch in der Lehre war die Gemeinde Großmanns den damaligen Offenen Brüdergemeinden ja durchaus ähnlich. Nahm Springer an den allmählich entstehenden überörtlichen Strukturen der Offenen Brüder Anstoß, weil sie ihn an die der Geschlossenen Brüder erinnerten?24 Störte ihn die ungebrochene Allianzbegeisterung der Offenen Brüder? Er selbst war von der Allianz offensichtlich desillusioniert, wie aus dem gemeinsam mit Großmann verfassten Artikel „Freie Knechte, nicht freie Herren“ hervorgeht:

Wie manche rühmen sich, daß sie auf „Allianzboden (?)“ stehen – welch einen Wert das haben soll, ist unerklärlich – ohne der Schriftwahrheit von der Einheit des Leibes Christi auch nur im geringsten näher zu kommen. Konferenzen können da zweifelsohne viel helfen, aber es müßten wirklich Konferenzen zum Konferieren, Aussprechen und Beraten heiliger, ernster Wahrheiten sein und nicht Glaubensversammlungen, wo einige wenige Brüder ihre Gedanken über an und für sich wichtige Schriftwahrheiten äußern.25

Gab es bereits lehrmäßige Differenzen zwischen Springer und den Offenen Brüdern, die eine Trennung auch von ihrer Seite aus erforderlich machten? Hatte Springer sich schon für die Sonderlehren Ströters geöffnet – oder für die Knochs? Fest steht jedenfalls, dass er 1912 eine eigene Zeitschrift gründete, also offenbar meinte, etwas Eigenes zu sagen zu haben, etwas, das er auch in Großmanns Zeitschrift nicht unterbringen konnte. Der Titel – Freiheit und Leben – erinnert auffallend an ein Schweizer Evangelisationsblatt der Offenen Brüder namens Leben und Freiheit (die deutschsprachige Ausgabe von Vie et Liberté, herausgegeben von Samuel Squire [† 1946] in Lausanne), aber das könnte auch Zufall sein. Der (zeitweilige?) Untertitel Missionsblatt der Freien Brüdergemeinde Bethanien gibt derzeit noch Rätsel auf – gründete Springer also eine eigene Gemeinde? Wenn ja, wo? Leider ist diese Zeitschrift extrem selten (die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig besitzt lediglich sechs verstreute Hefte aus den Jahren 1914–17, die Bayerische Staatsbibliothek München ein einziges Heft mit Beiblatt aus dem Jahr 1916,26 ansonsten sind in öffentlichen Bibliotheken keine Bestände nachgewiesen), sodass ich dieser Spur bisher nicht nachgehen konnte.

Springer und Knoch

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Adolph Ernst Knoch (1874–1965)

Spätestens Mitte der 1920er Jahre – also über zehn Jahre vor Großmann – verkündigte Springer öffentlich die Allversöhnungslehre im Sinne Knochs. Unsearchable Riches, Knochs seit 1909 in Los Angeles erscheinende Zeitschrift, wies im Januar 1926 auf Vorträge von „Prediger Springer“ in Berlin hin und kommentierte:

Die große Wahrheit von der Allversöhnung hat wenigstens einen Zeugen in dieser großen Millionenstadt. Auch in anderen Teilen Deutschlands gibt es Hinweise auf ein wiedererwachtes Interesse.27

Im Mai 1929 berichtete Knoch von Springers Zeitschrift:

Wir freuen uns, den Empfang von Freiheit und Leben zu bestätigen, einer deutschen Publikation, die von Prediger M. Springer aus Berlin herausgegeben wird, dessen Adresse sich unter den Ankündigungen auf dem Umschlag befindet. Sie enthält eine Anzahl guter Artikel über Äonen und Allversöhnung. Wir sind dankbar zu sehen, dass diese Wahrheiten ein wenig von der Anerkennung erhalten, die sie verdienen.28

Ein Jahr später hieß es:

Eine deutsche Übersetzung von „What is Death“ ist von unserem Freund Max Springer, Berlin-Wilmersdorf, Güntzelstraße 29 herausgegeben worden. Sie trägt den Titel „Der Tod, was ist er?“ Wir haben einen großen Vorrat und hoffen, dass unsere deutschen Freunde großzügig davon Gebrauch machen werden. Wir senden gerne jedem in den Vereinigten Staaten kostenlos eine unserer deutschen Broschüren zu, um auf unsere wachsende Liste von Literatur in dieser Sprache aufmerksam zu machen.29

In der Broschüre What is Death? lehrte Knoch, dass der Mensch nach dem Tod nicht weiterlebe, sondern bis zur Auferstehung in einem Zustand des Nichtbewusstseins „schlafe“; man wird davon ausgehen können, dass der Übersetzer Springer diese Auffassung ebenfalls vertrat.30

Knoch in Deutschland

Im Sommer 1931 hielt sich Knoch auf dem Weg nach Palästina mehrere Wochen in Deutschland auf und traf dabei auch Springer. In diesem Zusammenhang kommen einige interessante biografische Einzelheiten über Springer zur Sprache:

In Berlin wurde ich von Prediger Max Springer und meinem alten Freund, dem Chiropraktiker Lehmann, empfangen, der einst meinen Griechischkurs in Los Angeles besucht hatte. Er beherbergte mich während meines Aufenthalts in der deutschen Hauptstadt. Am Abend nach meiner Ankunft besuchten wir die regelmäßige Mittwochabendklasse in der Nassauischen Straße 56, wo ich zu meiner Überraschung sofort aufgefordert wurde zu sprechen; Prediger Springer dolmetschte. Es wurde ein Plan zum Besuch verschiedener Teile Deutschlands mit diesem furchtlosen Mann Gottes als Führer und Dolmetscher aufgestellt. […] Am Sonntag wurde morgens das Mahl des Herrn eingenommen, nachmittags eine Nachbarschaftsklasse31 besucht und abends eine Ansprache an eine große Zuhörerschaft in dem schönen neuen Gebäude von Dr. Großmanns Gemeinde32 gehalten. Da Prediger Springer erkältet war, dolmetschte Gräfin Kanitz33 in allen drei Zusammenkünften. […]

Die Arbeit von Bruder Springer hat einen erschütternden Schlag erlitten. Ein Tornado hat die Ernten seines Altenheims vernichtet, sodass er nicht in der Lage ist, eine Hypothek von $ 3000 auf ein Anwesen, das mindestens $ 25.000 wert ist, zurückzuzahlen. Es scheint, als würde er es verlieren, nur weil er nicht die Mittel hat, einen so geringen Bruchteil des Wertes zu begleichen. Da fast jeder in Not ist, besteht wenig Hoffnung auf menschliche Hilfe. Deutschland befindet sich in einer äußerst bemitleidenswerten Lage. Nach außen geben sich die Leute stolz, aber ihre Taschen sind leer.34

Springer war um diese Zeit also offenbar Besitzer eines Altenheims, dem ein landwirtschaftlicher Betrieb angeschlossen war; genauere Informationen darüber liegen mir augenblicklich noch nicht vor. Interessant wäre auch zu erfahren, ob es sich bei der Gemeinde in der Nassauischen Straße 56 um Springers „Freie Brüdergemeinde Bethanien“ handelte; die Nähe zu seiner Wohnung in der Güntzelstraße 29 (etwa 350 Meter entfernt, wenn die heutige Hausnummerierung auch damals schon gültig war) könnte dafür sprechen. Allerdings befand sich in der Nassauischen Straße 56 zeitweise auch eine „Station“ der seit 1891 existierenden Baptistengemeinde „Bethania“ (!) in Moabit, Emdener Straße 15 (etwa 5 km nördlich gelegen), die genau um diese Zeit an ihrem Hauptstandort ein Alten- und Pflegeheim namens „Bethel“ einrichtete.35 Ob hier irgendein Zusammenhang besteht, vermag ich derzeit noch nicht zu sagen; dass Springer mit seinen inzwischen doch recht unorthodoxen Lehrauffassungen und Verbindungen regulärer Baptist war, erscheint mir eher zweifelhaft.

ur_1931_402Der nächste Absatz in Knochs Bericht ist brüdergeschichtlich von großem Interesse:

Das Wochenende wurde in Niederschelden im Siegerland unter ehemaligen Exklusiven Brüdern verbracht. Wegen der drückenden Hitze fuhren wir die ganze Nacht mit dem Zug und wurden in Siegen von Bruder Wilhelm Jäger36 empfangen, der uns während unseres Aufenthalts beherbergte. Am Samstag wurden zwei Bibelvorträge gehalten, am Sonntagmorgen das Mahl des Herrn eingenommen, am Nachmittag und Abend Ansprachen gehalten. Ein anschauliches Beispiel für die Zersplitterung der „Brüder“ bot die Tatsache, dass eine einzige Familie in mehrere Teile gespalten war, von denen ein Teil zu diesem und ein anderer zu jenem Zweig gehörte; einige waren ganz ausgestoßen. Lasst uns dafür beten, dass die wahre Grundlage der Gemeinschaft – der Wandel, nicht die Lehre – von ihnen angenommen wird und diese Trennungen geheilt werden. Manche von ihnen schienen überzeugt zu sein, dass die „Brüder“ in dieser Hinsicht von der Schrift abgewichen sind und ihre herzzerreißende Uneinigkeit und Sektiererei darauf zurückzuführen ist.37

Über die Versammlung in Niederschelden finden sich in Band 2 von Gerhard Jordys Brüdergeschichte einige Hinweise. Sie hatte sich geweigert, „einen deutlichen Trennungsstrich gegenüber Wilhelm Brockhaus zu ziehen“38 (gemeint ist der Ersteller der Elberfelder Bibelkonkordanz [1857–1936], der die Allversöhnungslehre angenommen hatte), und war deshalb 1926 aus dem Kreis der Elberfelder Versammlungen ausgeschlossen worden. Dass sie mit Springer und Knoch in Kontakt stand, beweist, dass es nicht nur um „persönliche Freundschaft mit dem Ausgeschlossenen“39 (Wilhelm Brockhaus) ging, sondern auch um klare Sympathien für seine Lehre.

Knoch fährt fort:

Nach einem Besuch in Elberfeld fuhren wir nach Mülheim und besuchten Bruder Peter Fabrizius. Später überquerten wir den Rhein nach Köln, wo ein interessiertes Publikum einer Erläuterung der konkordanten Methode zuhörte. Am nächsten Morgen fuhren wir nach Düsseldorf, geleitet von Bruder Schultz, der einst zu den Führern der deutschen Internationalen Bibelforscher-Vereinigung40 gehörte, aber heute ein begeisterter Arbeiter für die Wahrheiten ist, die wir lehren. Da Bruder Springer krank war, fuhr er zum Haus seiner Tochter in Düsseldorf. […] Im Hospiz „Pilgerheim“, einem geeigneten Ort für einen Pilger auf dem Weg ins Heilige Land, waren wir höchst bequem untergebracht. Zwei Zusammenkünfte wurden hier abgehalten. Die erste warf ein schwieriges Problem auf. Da Bruder Springer krank war, hatte ich keinen Dolmetscher! Im Publikum saßen viele Lehrer und Wissenschaftler. Aber ich musste meinen Stolz überwinden und in gebrochenem Deutsch losstammeln. Ich dachte auf Englisch, übersetzte es ins Deutsche, so gut ich konnte, und es gelang mir, mich mit Hilfe eines freundlichen und mitfühlenden Publikums verständlich zu machen, das mir oft mit Wörtern aushalf, an die ich mich nicht erinnern konnte. Am nächsten Abend fühlte sich Bruder Springer gut genug, um seinen Platz einzunehmen. Ich werde nie die freundliche Rücksichtnahme vergessen, die mir im Pilgerheim und von den Gläubigen in Düsseldorf entgegengebracht wurde.41

So weit die Auszüge aus Knochs Bericht. Knoch reiste weiter nach Palästina, kehrte aber 1932 wieder nach Deutschland zurück, um Sigrid von Kanitz zu heiraten und sich gemeinsam mit mehreren Mitstreitern der Erarbeitung einer Konkordanten Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche zu widmen (die englische Ausgabe war bereits seit 1914 in Fortsetzungen erschienen).

Ausklang

Im März 1932 wird Max Springer nochmals in Unsearchable Riches erwähnt:

Da wir42 selbst von rein deutschem Blut sind und ein wenig von der Sprache kennen, sehnen wir uns seit vielen Jahren danach, die uns anvertrauten großen Wahrheiten auch im Land unserer Väter bekannt zu machen. Dies geschah teilweise durch die Veröffentlichung von Artikeln im Prophetischen Wort,43 durch die Schriften und den Dienst von Schädel,44 Czerwinski,45 Dick,46 Springer und anderen und in den letzten Jahren vor allem durch [die Zeitschrift] Der Überwinder, herausgegeben von Freiin Wally von Bissing47 und Gräfin Sigrid von Kanitz, die nun als Zweig des Concordant Publishing Concern48 mit uns verbunden sind und Form und Namen ihrer Zeitschrift geändert haben, um mit den englischen Unsearchable Riches übereinzustimmen.49

ur_1932_355Bereits ein halbes Jahr später musste Knoch jedoch Springers Tod melden:

IN MEMORIAM

Die Arbeit in Deutschland hat einen schweren Verlust erlitten durch den Tod von Prediger Max Springer im reifen Alter von 74 Jahren. Während seines frühen Dienstes war er mit den sogenannten „Plymouth-Brüdern“ verbunden, entkam aber vor langer Zeit ihren sektiererischen Fesseln und betrieb eine unabhängige Arbeit für den Herrn. Er trat standhaft für die Wahrheit ein, die ihm anvertraut war, auch wenn ihn dies teuer zu stehen kam. Bei unserem ersten Besuch in Deutschland war er unser Vertreter und Dolmetscher. Ein kraftvoller, geistlich gesinnter Redner. Viel Unglück, Krankheit und Leid begleiteten seine späteren Jahre, aber sein Glaube wankte nicht. Auf Wiedersehen! – A. E. K.50

Ein genaues Todesdatum fehlt leider; da der Nachruf aber in der Septemberausgabe 1932 erschien, dürfte Springer im Sommer 1932 verstorben sein. Sein Geburtsjahr lässt sich aufgrund des Todesalters auf 1858 datieren. Mit dem „Unglück“ und „Leid“ in seinen „späteren Jahren“ sind vermutlich u.a. die wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Altenheim gemeint.

Damit war ein bewegtes, arbeits- und abwechslungsreiches Leben zu Ende gegangen. Wo Springers geistliche Wurzeln lagen, wissen wir nicht, aber von den Elberfelder Brüdern über die Raven-Brüder und die Offenen Brüder bis hin zu den freien Kreisen um Großmann und Knoch hatte er mindestens vier gemeindliche Stationen durchlaufen, für die er sich jeweils in Wort und Schrift streitbar eingesetzt hatte. Unter den „Brüdern“ dürfte er nach 1910 weitgehend vergessen worden sein – die beiden letzten Jahrzehnte seines Lebens lagen jedenfalls bisher völlig im Dunkeln und konnten hier vielleicht erstmals ein klein wenig erhellt werden. Für weitere Hinweise bin ich dankbar!