Schlagwort-Archiv: Robert Beacon

Neuedition und Übersetzung des „prophetischen Briefs“

groves
Anthony Norris Groves (1795–1853)

Der berühmte „prophetische Brief“, den Anthony Norris Groves am 10. März 1836 an John Nelson Darby schrieb, gehört seit dem ersten Tag zum Download-Angebot von bruederbewegung.de (erstaunlicherweise scheint es bis heute keine andere Online-Version als eigenständiges Dokument zu geben). Als Textgrundlage hatte ich damals den Abdruck in F. Roy Coads History of the Brethren Movement (Exeter 1968, S. 287–291) verwendet, da mir keine ältere Vorlage zugänglich war; ein grober Fehler in der Jahreszahl (1863 statt 1836), den ich stillschweigend berichtigte, ließ jedoch schon damals Zweifel an der Zuverlässigkeit des Textes aufkommen.

Das Original

Für Februar 2020 hatte ich mir die Edition einer lesbaren und korrekten deutschen Übersetzung des Briefes vorgenommen. In diesem Zusammenhang habe ich nun auch das englische Original noch einmal überprüft, und zwar durch einen Vergleich mit dem wahrscheinlich ältesten Abdruck im Anhang des Memoir of the Late Anthony Norris Groves, herausgegeben von seiner Witwe Harriet Groves (1856, ²1857, ³1869). Neben einigen Abweichungen in Rechtschreibung, Zeichensetzung und Typografie kamen dabei immerhin auch fünf Fehler im Wortlaut zutage (falsch → richtig):

  • having so few opportunities → having had so few opportunities
  • our principle of union → our principle of communion
  • What I mean is this, that → What I mean is, that
  • against any dark → against any darkness
  • neither by frowns, nor smiles → neither by frowns, or smiles

Keiner dieser Fehler ist grob sinnentstellend, aber insbesondere der zweite erscheint doch erwähnenswert. Eine korrigierte Fassung des Briefes auf der Grundlage der 3. Auflage des Memoir (die vielleicht als „Ausgabe letzter Hand“ gelten kann) steht seit heute auf bruederbewegung.de zur Verfügung.

Übersetzungen

Gedruckte deutsche Übersetzungen des vollständigen Briefes sind mir bisher zwei bekannt: eine ältere von Christian Schatz in der Artikelserie „Rückblicke und Ausblicke“ (Saat und Ernte 10 [1929], S. 8–15), die offenbar auch als Grundlage für die auszugsweise Wiedergabe in E. H. Broadbents Gemeinde Jesu in Knechtsgestalt diente (Dillenburg 1965 u.ö., S. 369–371), und eine neuere in dem Band Gemeinde Jesu global: Episoden der europäisch-indischen Zusammenarbeit in Andhra Pradesh 1833–2008, herausgegeben vom Verein zur Förderung des Waisenhauses Hyderabad (Wettingen/Schweiz 2008, S. 67–73). Die ältere Übersetzung ist freier und dadurch flüssiger lesbar, aber oft auch ungenau; die neuere ist wörtlicher und schwerfälliger, aber ebenfalls nicht frei von Ungenauigkeiten und Fehlern. Ein Beispiel zur Veranschaulichung (Fettdruck hinzugefügt):

I send you this letter as we were the first to act on these principles, rather than to H— and C—, whose faith and love I do so truly desire to follow.

Dieser an sich nicht besonders komplexe Satz – an anderen Stellen hält Groves’ Syntax wesentlich größere Herausforderungen bereit – wird von Christian Schatz wie folgt wiedergegeben:

Da wir die ersten waren, die nach diesen Grundsätzen handeln wollten, schreibe ich diesen Brief lieber an Sie als an H. und C., von denen ich mir so sehr wünsche, daß sie im Glauben und in der Liebe Gefolgschaft leisten mögen.

Der letzte Satzteil ist ganz offenkundig falsch übersetzt, denn das Subjekt des ursprünglichen Satzes lautet „I“, d.h. Groves selbst wünscht dem „Glauben“ und der „Liebe“ von H. und C. „nachzufolgen“, nicht umgekehrt. Der Übersetzer in Gemeinde Jesu global erkennt zwar „I“ richtig als Subjekt, bezieht das Relativpronomen „whose“ aber seltsamerweise auf Darby anstatt auf H. und C.:

Ich sende diesen Brief lieber Ihnen als H. und C., weil wir die ersten waren, die nach diesen Grundsätzen handelten, und es mein aufrichtiger Wunsch ist, Ihrem Glauben und Ihrer Liebe folgen zu können.

Eine sowohl lesbare als auch zuverlässige deutsche Fassung des Briefes schien mir daher nach wie vor ein Desiderat zu sein, und so habe ich die Übersetzung von Christian Schatz in den letzten Tagen noch einmal Satz für Satz mit dem Original verglichen und korrigiert. An besonders schwierigen Stellen habe ich die Version in Gemeinde Jesu global und eine weitere, bisher ungedruckte Übersetzung von privater Hand (die noch wörtlicher und schwerfälliger ist, aber auch einige gelungene Formulierungen bietet) hinzugezogen. Das Ganze stellte sich als mühsamer und arbeitsintensiver heraus als ursprünglich gedacht, aber das hoffentlich zufriedenstellende Ergebnis (ergänzt durch einige Fußnoten mit Namenerklärungen) ist seit heute ebenfalls auf bruederbewegung.de verfügbar.

Nachbemerkung

Groves’ Brief gilt als eines der Grundlagendokumente des Offenen Brüdertums und wurde auch aus diesem Grund immer wieder nachgedruckt. Was die Geschlossenen Brüder von dem Brief und seinem Verfasser hielten – eine Antwort Darbys ist leider nicht überliefert –, macht ein Artikel des Kelly-Bruders Robert Beacon in The Bible Treasury 16 (1886/87) deutlich.

Weitere frühe „Brüder“ über den Gott des Islam

smith
Hamilton Smith

Im vorigen Blogeintrag habe ich gezeigt, dass John Nelson Darby im Gegensatz zu den meisten heutigen „bibeltreuen“ Christen offenbar nicht davon ausging, dass der Gott des Islam ein anderer ist als der Gott der Christen. Ähnliche Aussagen lassen sich auch in den Schriften anderer „Brüder“ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts finden. So schrieb beispielsweise Hamilton Smith (1862–1943):

What a world lies under the eye of a holy God! Heathendom without the knowledge of God: Mohammedanism with a perverted knowledge of God: Christendom forsaking God: and the mass of true Christians backsliding from God.1

Im Gegensatz zu den Heiden, die Gott überhaupt nicht kennen, haben die Muslime nach Smith also eine „verzerrte Kenntnis“ Gottes – womit im Kontext nur der wahre Gott gemeint sein kann. Dass sie einen völlig anderen Gott verehren, wird mit keinem Wort angedeutet.

snell
Hugh Henry Snell

Hugh Henry Snell (1817–1892) unterscheidet ebenfalls konsequent zwischen Muslimen und Götzendienern, zählt Erstere also offenbar nicht zu Letzteren:

There is another form of spurious Christianity equally unclean which also has many admirers. It cries up loudly the value of the Scriptures. Bible knowledge is inculcated. The precious volume is largely distributed. Christianity, as a system which is opposed to Judaism, Mohammedanism, and idolatry, is openly contended for.2

By a Christian I mean a person who is „in Christ;“ not a mere nominal professor of Christianity as contrasted with a Mohammedan, an idolater, or a Jew; but a sinner who has received the Lord Jesus Christ, whom God sent, as his Saviour.3

Robert Beacon, von dem 1883 in The Bible Treasury ein Artikel über Götzendienst erschien, wendet das Wort idolatry bzw. idolatrous im Gegensatz zu Snell zwar auch auf den Islam an, aber es wird schnell deutlich, dass er dessen Götzendienst nicht in der Verehrung eines anderen Gottes, sondern in der Verehrung Mohammeds sieht:

There are two other forms of infidelity; but these stand apart by themselves. Delusions both infidel and idolatrous, viz., Mohammedanism and Mormonism. Infidel, for each arose in countries where Christianity had been preached, and where the truth was wholly or partially denied. Idolatrous, for each exalted a man and gave him the homage due only to Christ. But Mahomet and J. Smith stole largely from the Bible, as appears from their respective books, the Koran, and the book of Mormon. […] Mohammedanism had its birth in Arabia. Paul had been there (Gal. i. 17). Before the close of the sixth century idolatry again prevailed, as the Epistle to the Galatians warned of the danger, and charged its principle on such as after the cross went back to ritualism. Mahomet appears, his wife is his first convert, and she converts her cousin who was a professed christian. Thus infidelity and apostacy are stamped upon it at the first appearance. At that moment there were only three, and one an apostate! Mahomet professed to extirpate idolatry, but he only changed its character. The rally cry of his followers was “God is great and Mahomet is His prophet.” Their infidelity consists in denying, not the being of God, but the person and work of the Son, and, we may add, in supplanting the abiding presence of the Spirit by the fabulous mission of the warrior vicar of God. Most of the countries now called Mohammedanism were once Christian.4

In der letzten hervorgehobenen Passage stellt Beacon sogar ausdrücklich fest, dass die Muslime die Existenz Gottes (und damit meint er offensichtlich den wahren Gott) nicht leugnen, sondern „nur“ die Person und das Werk des Sohnes; daher kann er auch den „Schlachtruf“ der Muslime mit „Gott ist groß“ (anstatt, wie heute in christlichen Kreisen üblich, mit „Allah ist groß“) wiedergeben.

PS: Aus alledem folgt natürlich nicht, dass die „Brüder“ den Islam als gleichwertigen Weg zum Heil angesehen hätten; sie lassen im Gegenteil keinen Zweifel daran, dass sie ihn in Ursprung und Wesen für antichristlich, ja satanisch hielten (vgl. z.B. die scharfe Islamkritik in Walter Scotts Kommentar zu Offenbarung 9).