Der heutige „Jubilar“ (wenn man eine Person, deren Todestag sich jährt, überhaupt so nennen kann) schloss sich der Brüderbewegung erst wenige Wochen vor seinem Tod an, aber gerade das führte auf seiner Beerdigung zu einem Eklat, über den in der Presse breit berichtet wurde.
Leben und Karriere

Gillery Pigott wurde am 18. September 1813 als vierter Sohn des Landbesitzers Paynton Pigott (1770–1862) und seiner Frau Maria Lucy geb. Gough (1783–1860) in Oxford geboren.1 Er schlug eine juristische Laufbahn ein und trat 1836 dem Middle Temple, einer der vier englischen Anwaltskammern, bei. Im selben Jahr heiratete er Frances Drake (1814–1894) aus London. Sie bekamen zehn Kinder – vier Söhne (von denen zwei bereits im Kindesalter starben) und sechs Töchter.2
Nach seiner Anwaltszulassung 1839 wirkte Pigott zunächst im Gerichtsbezirk Oxford. Ab 1854 war er bei der britischen Steuerbehörde (Inland Revenue) tätig, 1857–62 nahm er parallel noch die Teilzeitaufgabe eines Stadtrichters (Recorder) in Hereford wahr. 1863 wurde er zum Richter (Baron) am Schatzkammergericht (Court of Exchequer) ernannt und in den niederen nichterblichen Adelsstand (Knight) erhoben, sodass er sich von nun an Sir Gillery Pigott nennen durfte. Mit der Nobilitierung verlor er allerdings auch seinen Sitz im britischen Parlament (House of Commons), den er seit 1860 als Abgeordneter der Liberal Party für die Stadt Reading innegehabt hatte.
Geistliche Entwicklung
Von Hause aus Anglikaner, hatte sich Pigott im Laufe der Jahre zunehmend von seiner Kirche entfremdet.3 Vor allem die starre Liturgie und die formellen, von allen Anwesenden unterschiedslos mitzusprechenden Gebete missfielen ihm. Ab etwa 1870 besuchte er die Gottesdienste in der Baptistenkapelle von William Landels (1823–1899) am Londoner Regent’s Park.4 Hier schätzte er das freie Gebet des Pastors, aber er vermisste nach wie vor die Möglichkeit, sich auch als Gemeindeglied an der Anbetung zu beteiligen. Sein älterer Sohn Arthur Gough Pigott (1850–1878), den offenbar ähnliche Gedanken umtrieben, kam mit den Geschlossenen Brüdern in Berührung und empfahl seinem Vater ein Studium der neutestamentlichen Gemeindepraxis. Nach einer Begegnung mit William Kelly (1821–1906) nahm Gillery Pigott am 4. April 1875 in einer bescheidenen Hausversammlung der „Brüder“ – höchstwahrscheinlich bei dem Schuhmacher William Franklin in Sherfield Green (Hampshire)5 – zum ersten Mal am Brotbrechen teil.
Einen Tag später erlitt er einen Sturz vom Pferd, der ihn bettlägerig machte. In dieser Zeit las er einige Schriften von Kelly (u.a. Christian Worship und Christian Ministry), die dieser ihm zugesandt hatte und die ihn endgültig vom Standpunkt der „Brüder“ überzeugten, wie er Kelly am 17. April brieflich mitteilte. Am 23. April richtete er auch an den örtlichen Pfarrer Alfred Gresley Barker (1835–1906), mit dem er sich anscheinend schon vorher über solche Fragen ausgetauscht hatte, einen Brief, machte ihn auf schwerwiegende Irrtümer in einer gedruckten Predigt aufmerksam und legte zwei Schriften der „Brüder“ bei (Is the Anglican Establishment a Church of God? von William Kelly und Who is a Priest, and what is a Priest? von John Nelson Darby). Vier Tage später, am 27. April 1875,6 heute vor 150 Jahren, starb Gillery Pigott in seinem Anwesen Sherfield Hill House bei Basingstoke überraschend an einer Herzerkrankung. Er wurde nur 61 Jahre alt.
Beisetzung
Einige Tage nach Pigotts Tod schrieb sein knapp 25-jähriger Sohn Arthur, ebenfalls Jurist und 1873 als Anwalt (Barrister) zugelassen,7 einen Brief an Pfarrer Barker und bat um die Erlaubnis, die Beerdigung seines Vaters von einem Freund (also einem Geschlossenen Bruder) abhalten zu lassen.8 Barker lehnte dies ab mit der Begründung, dass er gesetzlich verpflichtet sei, keine Abweichungen von der Begräbnisliturgie der Church of England zuzulassen. Hierauf erwiderte Arthur Pigott, dass es auch der Wunsch seiner Mutter sei, dass die Beerdigung nicht nach anglikanischem Ritus erfolge, da sein Vater sich den „Plymouth Brethren“ angeschlossen habe; sollte der Pfarrer bei seiner Weigerung bleiben, würden sie auf einen Gottesdienst auf dem Friedhof ganz verzichten. Bei einem persönlichen Besuch im Pfarrhaus von Sherfield on Loddon machte Pigott noch einen letzten Versuch, den Pfarrer umzustimmen, aber vergebens.
Die Beerdigung wurde auf Mittwoch, den 5. Mai festgesetzt.9 Um 14.15 Uhr fand zunächst eine Trauerfeier auf einem Rasenplatz bei Pigotts Haus statt, auf der William Kelly und Christopher McAdam (1807–1892) sprachen.10 Anschließend setzte sich der Trauerzug in Richtung Friedhof (gut 1 km nordöstlich gelegen) in Bewegung, wo er kurz vor 16 Uhr eintraf. Pfarrer (Rector) Barker und sein Hilfspfarrer (Curate) John Henry Sandall (1847–1925) sowie die Kirchenvorsteher Richard Tubb (1837–1904) und George Moss11 (1828–1912) hatten die Prozession bereits seit 14 Uhr am Friedhofstor erwartet.
Der Bestatter James Moody (1826–1888), der den Sarg begleitete, gab Barker sogleich zu verstehen, dass seine Dienste nicht erwünscht seien. Barker begann dennoch die Begräbnisliturgie zu verlesen und schritt dabei auf die Kirche zu. Während des dritten Satzes merkte er, dass der Sarg bereits zum Grab gebracht und eilig hinuntergelassen wurde. Er wies nun seinen Hilfspfarrer Sandall an, den am Grab zu sprechenden Teil der Liturgie vorzutragen. Sandall setzte dazu an, wurde aber durch Zurufe der Trauergäste unterbrochen. Schließlich ging der Rechtsanwalt der Familie Pigott, Arthur Walker (1809–1875), auf Sandall zu und protestierte im Namen der Hinterbliebenen gegen die weitere Fortsetzung der Liturgie. Die Vertreter der Kirche waren auf diesen Fall vorbereitet und hatten ihrerseits eine schriftliche Protestnote verfasst, die Walker von Kirchenvorsteher Tubb überreicht wurde. Daraufhin schlossen Barker und Sandall ihre Bücher und verließen den Friedhof.
Wie bereits erwähnt, erregte der Vorfall großes Aufsehen und wurde von zahlreichen Zeitungen aufgegriffen, wobei die Berichterstattung nicht immer exakt den Tatsachen entsprach. Als Beispiel sei der Artikel der Londoner Zeitung The Standard vom 7. Mai 1875, S. 2 zitiert:
SCENE AT BARON PIGOTT’S FUNERAL. – We regret to record a scandalous disturbance at the burial of the late Baron Pigott on Wednesday, at Sherfield Churchyard, near Basingstoke. The baron had been dead more than a week, but it was not till the day before the funeral that his two sons, who are members of the sect known as the “Plymouth Brethren,” intimated that they did not wish the Church Service to be used. Mr. Osborne Morgan’s12 opinion was at once telegraphed for, and he replied that, the deceased having been baptised, the clergyman was bound to read the service over the body, but that, if the clergyman was interfered with, he might shut up his book and walk away, but the burial could not be stopped. The clergyman, the Rev. A. G. Barker, went early to the churchyard, and exhorted the crowds to seemly and decent behaviour. He and his curate, the Rev. H. Sandall, afterwards met the funeral at the gate, and proceeded with the words, “I am the Resurrection and the Life,” when some of the mourners shouted to him to stop, and others to go on. Meanwhile, the bearers, commanded by one of the Baron’s sons, pushed along, and threw the coffin into the grave near the gate. A solicitor was then sent to say that in the name of the executors he protested against the service being read. The rector shut his book, and walked quietly away with his curate. The churchwardens have served a notice on the solicitor for the two sons, stating that they hold him legally responsible for stopping the rector in the performance of his duty. The great crowd then quietly dispersed. There is much indignation at the outrage, especially as it would have been quite easy to bury the deceased in Basingstoke Cemetery with any ceremonies the relations might have thought proper.
Pigotts zweiter Sohn, der 19-jährige Cecil Ernest (1855–1893), wehrte sich am folgenden Tag in einem Leserbrief gegen die Behauptung, er sei ein „Plymouth Brother“, und distanzierte sich auch von den Geschehnissen auf dem Friedhof:
SIR, – I am the younger of the late Baron Pigott’s two sons, and having seen a paragraph in the Standard of to-day, headed “Scene at Baron Pigott’s Funeral,” I wish to state that I am not “a member of the sect known as Plymouth Brethren,” and that I did not “intimate” to any person at any time “that I did not wish the Church service to be used.” CECIL E. PIGOTT.13
Laut Arthurs späterer Aussage vor Gericht müssen mindestens eine seiner Schwestern und andere Verwandte aber mit seinem Vorgehen einverstanden gewesen sein.
Prozess
Für Arthur Pigott und den Familienanwalt Arthur Walker sollte die Episode nämlich noch gerichtliche Konsequenzen haben. Kirchenvorsteher Richard Tubb verklagte sie wegen Störung einer Begräbnisfeier, wobei er sich auf den Ecclesiastical Courts Jurisdiction Act von 1860 berief. In dessen zweitem Abschnitt heißt es,
dass jede Person, die einen Priester im kirchlichen Amt bei der Ausübung eines Ritus in einer Kirche oder auf einem Friedhof in England oder Wales belästigt, behindert, stört oder beunruhigt oder ihn auf sonstige Weise daran hindert oder in seiner Tätigkeit beeinträchtigt, bei Verurteilung durch zwei Friedensrichter mit einer Geldstrafe von höchstens fünf Pfund oder mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Monaten belegt werden kann.14
Die Verhandlung fand am 2. Juni 1875 vor dem County Magistrates’ Court (eine Art Amtsgericht) im Rathaus von Basingstoke statt. Da Arthur Pigott (der sich selbst verteidigte) die volle Verantwortung für die Ereignisse auf dem Friedhof übernahm, wurde die Klage gegen Arthur Walker nach dem Eröffnungsplädoyer fallengelassen. Als Zeugen vernahm man Pfarrer Barker, Hilfspfarrer Sandall, Colonel Pigott (einen Bruder des Verstorbenen15), Colonel Pigott-Carleton (einen Neffen des Verstorbenen16), Rechtsanwalt Walker, die Bestatter James Moody und John Gray Hill sowie die Sargträger William Franklin und Daniel Brown.17 Bis auf die beiden Geistlichen sagten alle übereinstimmend aus, dass es keine Störung und keinen Aufruhr gegeben habe, womit sie ein zentrales Verteidigungsargument des Beklagten unterstützten. Pigott berief sich außerdem auf die juristische Meinung, dass jeder Einwohner einer Pfarrei das Recht auf Beisetzung auf dem örtlichen Friedhof habe – ob mit oder ohne kirchliche Liturgie.
Auf das Angebot des gegnerischen Anwalts, die Klage nicht weiterzuverfolgen, wenn der Beklagte anerkenne, im Unrecht gewesen zu sein, und sich für sein Verhalten entschuldige, ging Pigott nicht ein. Das Gericht verurteilte ihn nach 35-minütiger Beratung einstimmig zu der relativ geringen Geldstrafe von £1 (nach heutiger Kaufkraft etwa £120 bis £140) plus Gerichtskosten. Pigott legte sofort Berufung ein, scheint diese aber später zurückgenommen zu haben, denn über einen weiteren Prozess konnte ich in der zeitgenössischen Presse nichts finden.
Nachkommen
Gillery Pigotts Söhnen war leider durchweg kein langes Leben beschieden. Die beiden ältesten, Gillery Paynton Francis Drake (1843–1847) und Frederic Thomas (1846–1847), wurden nur vier bzw. ein Jahr alt und weilten zur Zeit der hier geschilderten Ereignisse schon lange nicht mehr unter den Lebenden. Aber auch Arthur Gough und Cecil Ernest erreichten kein hohes Alter: Ersterer starb zweieinhalb Jahre nach dem Prozess, am 8. Januar 1878, im südspanischen Málaga, nur 27 Jahre alt (sein Grab ist noch heute vorhanden), Letzterer am 6. Mai 1893 im elterlichen Sherfield Hill, 37 Jahre alt. Beide waren unverheiratet geblieben.
Besser erging es den sechs Töchtern – sie wurden mit einer Ausnahme zwischen 72 und 88 Jahre alt. Die Ausnahme war Mabel Lucy Sarah (1852–1894), Ehefrau von Henry Edward Tredcroft (1853–1912), die vier Tage nach der Geburt ihres neunten Kindes im Alter von 42 Jahren starb. Sie war zugleich das einzige der Pigott-Kinder, das Nachkommen hinterließ. Ihre Schwester Rosalie Archer (1840–1924) schloss erst im relativ fortgeschrittenen Alter von 41 Jahren eine Ehe, und zwar mit dem Witwer Archer Anderson Morshead (1846–1911); die übrigen vier Schwestern Frances Drake (1837–1910), Alice Isabella (1848–1920), Edith Caroline (1853–1931) und Beatrice Barbara (1859–1947) blieben alle unverheiratet.
Wie viele Mitglieder der Familie sich der Brüderbewegung anschlossen, wäre noch zu erforschen. Gillery Pigotts Schwester Isabella (1821–1902) war jedenfalls mit dem „Bruder“ Charles Gilbert Eversfield (1822–1886) verheiratet, und von seinen beiden Schwiegersöhnen scheint mindestens Henry Edward Tredcroft einen „Brüder“-Hintergrund gehabt zu haben – Tredcrofts Schwester Theodosia Isabella (1851–1924) war die Frau von Dennis Lambart Higgins (1847–1943), einem angeheirateten Großneffen von George Vicesimus Wigram (1805–1879).